I. Allgemeine Eindrücke
I. 1. Kleinigkeiten am Rande
I. 2. Museumsstück
I. 3. Sumpf
I. 4. Seifenblasen
I. 5. Der feine Unterschied
I. 6. Leergut
II. Konkrete Fragen
II. 1. Mythos
II. 2. Rechenkunst
Laien-Kommentar
Kirchliche Praxis
Vollmacht
II. 3. Konsequente Inkonsequenz I
II. 4. Das 'Urwort des Seins'
II. 5. Konsequente Inkonsequenz II
II. 6. Heiligung
II. 7. Wahrheit
Nachwort
Zusammenstellung der Fragen
Literaturverzeichnis
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Kirchliche Praxis
L mußte miterleben, wie die befreundete Pfarrerin am Leben zerbrach und sich das Leben nahm. Sie ist verzweifelt am Unrecht - und an der Gleichgültigkeit derer, die ihr hätten helfen können (und müssen).
Während der dramatischen Ereignisse, die ihrem Tod vorausgingen, war sie mehrfach hingewiesen worden, daß Gott uns auch in aussichts- losen Situationen zur Seite steht. Doch sie zeigte dafür wenig Verständnis. Es war erschütternd, daß diese junge Pfarrerin kaum Mut und Hoffnung im Glauben fand. Daß Gott ihr in irgendeiner Form beistehen könnte, kam in ihren Überlegungen nicht vor. Als sie auf einige Stellen in den Psalmen hingewiesen wurde, war ihre Reaktion: ich bin doch nicht gerecht . . .
Sie hatte jahrelang Theologie studiert, doch in der Stunde der Not fand sie darin keine Hilfe. Sie predigt Sonntag um Sonntag das 'Evangelium', nur sich selber wußte sie keine 'Gute Nachricht' zu sagen. Sie hatte "Gottes Wort" samt Rechtfertigungslehre gelernt und in Prüfungen korrekt vorgetragen - doch ihr "Sein" war davon nicht berührt . . .
Ein extremes Beispiel; doch in seiner Tendenz kein Einzelfall: Während eines Seminars für Ehrenamtliche kommt es zur Diskussion über Vergebung. Der Dozent vertritt die Meinung, eine 'effektive' Vergebung gebe es nicht; dies sei nur Verdrängung; die Schuld wirke unterschwellig, im Unbewußten, weiter. Der Dozent ist Doktor der Theologie! Er hat viele lange Jahre "Gottes Wort" studiert und lehrt es anderen. Aber was es heißt "dir sind deine Sünden vergeben", hatte er offenbar nie erlebt.
Oder: zwei Landpfarrer diskutieren (schriftlich) den Begriff "Sünde". Es ist ein langer, heftiger Disput über Sinn und Herkunft des Wortes. Fachausdrücke prallen aufeinander ("hatta, hatai, hataàt, hitpa'el); Oxford dictionary wird zitiert; ThWBNT 1,295,26f; Homer Ilias V 287; Walch XIV. 321 . . . Dann wird die Frage gestellt: welche Rolle spielt Sünde denn im Leben der Gemeinde bzw. in eurer Predigt? Schlagartig herrscht Ruhe. Auf diese Frage haben sie keine Antwort parat. "Sünde" ist für sie ein interessantes theologisches Problem; in ihrem Leben - im praktischen Dienst in der Gemeinde - spielt es keine Rolle.
Diesen Eindruck vermitteln viele kirchliche Angestellte. Bei manchen springt er einem direkt mitten ins Gesicht, bei anderen ahnt man es erst, wenn man sie näher kennt: die Bibel steht im Arbeitszimmer, im Wohnzimmer haben sie keine; Glaube ist Beruf, im Privatleben kommt er nicht vor; Gottes Wort steckt im Kopf, im Herzen ist es nicht zu finden.
(Allerdings, das betrifft nicht nur Hauptamtliche. Dieser Geruch liegt über der ganzen Kirche: Wie viele Älteste sind an gewöhnlichen Sonntagen nie im Gottesdienst zu finden - und demonstrieren damit vor aller Welt, daß der Glaube ihnen im Grunde gleichgültig ist?)
Dem Professor scheint
ähnliche Kritik schon häufiger begegnet zu sein. Er weist den Vorwurf einer
"Verkopfung der Theologie" energisch zurück. Sein kerniger
Spitzensatz lautet; S. 173: " - übrigens:
womit soll man denn sonst denken, wenn nicht mit dem Kopf? - "
Mit dem Herzen, Herr
Professor, mit dem Herzen ! ! ! "Man sieht nur mit dem Herzen gut";
aber nicht nur das - auch zum guten Denken braucht es das Herz!
In der Psychologie gibt es
den Begriff der "emotionalen Intelligenz". Paulus kannte dessen
Bedeutung schon vor nahezu 2000 Jahren!
1Ko 13,1f: "Wenn ich mit
Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein
tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte
und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so daß
ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich
nichts."
Wenn ich alle Geheimnisse um
Gottes Gerechtigkeit wüßte und die feinsten Feinheiten von Jüngels
Rechtfertigungslehre vor- und rückwärts zitieren könnte, und hätte der Liebe
nicht, so wäre ich NICHTS ! ! ! Wenn aber der Mensch
"nichts" ist, wie sollte dann seine Predigt etwas sein? Wenn das Sein
nicht stimmt, wie sollen dann die Worte und Werke stimmen? Wie sollte er dann
"gute Früchte" bringen . . .
Nun ist allerdings genau dies
der Kern des christlichen Rechtfertigungs- Gedankens: Gott ist alles, der
Mensch ist nichts. Gott allein (bzw. sein heiliger Geist) schafft Veränderung,
wirkt den Glauben bei dem Hörer. Gottes Gnade kann auch die Predigt eines
gewissenlosen Lumpen benutzen, um einem Menschen entscheidend zu helfen und
dessen "Sein effektiv zu verändern." Allerdings hat dieser Lump (wie
alle Prediger) kein Anrecht darauf. Gnade ist kein Besitz; Gnade ist halt
Gnade, ein unverdientes Geschenk. Dennoch sollte es schon fraglich sein, ob Gott
beim Verteilen seiner Geschenke nur nach Talar und Ordinationsurkunde fragt?
Oder ob er sich auch die Person anschaut, die in dem Talar steckt - bevor er
einer Predigt "schöpferische Kraft"
verleiht.
Mit anderen Worten: Sollte
Gott die Perlen seiner Gnade tatsächlich völlig uneingeschränkt 'vor jede Sau
werfen'? Oder gilt Jes 57,15 auch für evangelische Theologen: "Denn so
spricht der Hohe und Erhabene, der ewig wohnt, dessen Name heilig ist: Ich
wohne in der Höhe und im Heiligtum und bei denen, die zerschlagenen und
demütigen Geistes sind, auf daß ich erquicke den Geist der Gedemütigten und das
Herz der Zerschlagenen."
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