Die Kirche des Wortes und ihre Wörter
Sonntag um Sonntag bekennen Christen ihren Glauben. Wir alle sprechen öffentlich das gleiche Bekenntnis: "Ich glaube an Gott den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer . . . Diese Worte sind zentraler Teil der Bekenntnisschriften, der offiziellen Grundlage des Glaubens unserer Kirche. Pfarrer werden darauf ordiniert . . .Die Monatszeitschrift "Zeitzeichen" wird in der EKD als eine der drei Säulen der evangelischen Publizistik bezeichnet. Der Inhalt wird verantwortet von namhaften Herausgebern; u. a. von den Bischöfen J. Friedrich, W. Huber, M. Käßmann, M. Kock sowie den Professoren W. Härle, E. Jüngel und M. Weinrich. In Nr. 01/2006 zieht der kurz vor dem Examen stehende Student F. Dieckmann dort eine Bilanz seines Theologie-Studiums:
Der sächsische Landesbischof J. Bohl verschickt Rundschreiben an seine Pfarrer und Gemeinden. Im Sommer 2006 hat er diesem Rundschreiben einen "hilfreichen Vortrag" der Leipziger Theologie- Professorin G. Schneider-Flume beigefügt, "Jesus Christus als Mitte der Schrift". Dort heißt es:
Der SPIEGEL brachte in Nr. 50/1999 ein Interview mit Prof. Andreas Lindemann von der kirchlichen Hochschule Bethel; laut SPIEGEL einer der "renommiertesten" deutschen Professoren für Neues Testament. (Das Zitat gibt die Kernaussagen aus mehreren Abschnitten wieder)
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"Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so . . . werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen" (Jh 8,31f). Wir leben in einem freien Land; hier kann - Gott sei Dank - jeder denken und glauben, was er für richtig hält. Doch Freiheit braucht Wahrheit; braucht verständliche, wahrhaftige Worte. "Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit" (2Ko 3,17). Um wirken zu können, braucht dieser "Geist des Herrn" eine Kirche, die eine eindeutige, verständliche und aufrichtige Sprache spricht.
Doch genau dies tut unsere Kirche - weithin - nicht. Der Theologie-Student wird bald einen Talar anziehen und vor seiner Gemeinde mit lauter Stimme bekennen: "Ich glaube an Gott" - und im Stillen denkt er: "Der Thron im Himmel ist leer . . ." Frau Prof. Schneider-Flume betet mit Christen in aller Welt: "Ich glaube an Gott, den Allmächtigen" - und betrachtet genau diesen Glauben als Aberglauben. Dieses Verhalten wird den sächsischen Gemeinden von ihrem Bischof als hilfreich empfohlen. Prof. Lindemann bekennt: "Ich glaube an Gott . . . und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn" - und ist überzeugt, daß der 'historische Jesus' genau dies nicht war, sondern dieser Titel dem Menschen Jesus erst nachträglich angedichtet wurde.
Sie alle tun das, was in Theologie und Kirche (weithin) ganz selbstverständlich praktiziert wird: Sie denken "nein", aber sie sagen "ja"; sie glauben "falsch", aber sie bekennen "richtig". Oder wohl genauer: Sie sprechen eine Sprache, die von Gemeinde und Öffentlichkeit falsch verstanden wird. Sie schauen nicht "dem Volk aufs Maul", sondern reden mit "dem Maul der Theologen". Einem "Maul", das die Wörter "interpretiert"; sie umdeutet, ihnen neue, andere Inhalte gibt. Einem Maul, das mit mehrdeutiger, mißverständlicher Zunge spricht - und so das Fundament der "Kirche des Wortes" zersetzt. Und mit der Sprache auch die Kirche selbst zu zerstören droht.
Unsere Kirche steht vor großen Problemen. Bischof Huber spricht von einer bereits in wenigen Jahren drohenden "faktischen Gestaltungsunfähigkeit". Um die zu verhindern, hat die EKD ein Impulspapier "Kirche der Freiheit" verabschiedet. Darin werden zahlreiche gute, richtige und wichtige Dinge gesagt. Und Vorschläge gemacht, wie die kirchliche Arbeit grundlegend verbessert werden kann. Auf Seite 100 z. B. werden Kompetenzzentren angeregt, die helfen sollen, die Arbeit in bestimmten kirchlichen Aufgabenbereichen effektiver zu gestalten. Ein Kompetenzzentrum für "Kirche und Sprache" (kirchliche Kommunikation?) ist nicht dabei; auch keines für "den Dialog zwischen Universitätstheologie und Gemeinde" oder für "Theologenausbildung".
Der Zusammenhang zwischen Sprache und Freiheit, zwischen Wörtern und Wahrheit, zwischen Wort und Leben wird in unserer Kirche kaum benannt. Zum Teil wohl, weil man nicht wagt, an diese große schmerzende Wunde zu rühren; zum Teil weil die daraus erwachsenden Probleme nicht bewußt sind (oder gar als Stärke des Protestantismus betrachtet werden). Noch einmal Prof. Andreas Lindemann im SPIEGEL Nr. 50/1999:
Die wichtigsten Schlagworte im Impulspapier lauten wohl "Mentalitätswandel" und "Qualität": Die in der Kirche engagierten - haupt- und ehrenamtlichen - Mitarbeiter sollen eine derzeit eher erschöpft- pessimistische, abwartende Grundhaltung in eine positiv-optimistische, erfolgsorientierte Einstellung zu ihrer Arbeit umwandeln. Gottesdienste, Kasualien usw. müßten so gestaltet werden, daß sie eine überzeugende, einladende Wirkung erzielen. Doch wie soll das geschehen?
Wie kann sich die Mentalität von Pfarrern wandeln, wenn viele von ihnen Sonntag um Sonntag vor leeren Bänken stehen und feststellen müssen, daß ihr ureigenstes Werkzeug, die Sprache des Glaubens, unbrauchbar ist? Wenn sie immer wieder spüren müssen, daß all die schönen Theorien, die ihnen während des Studiums beigebracht wurden, im Gemeindealltag eben gerade nicht als "Evangelium" verstanden werden? Wie sollen Menschen erfolgreich "missioniert" werden, wenn die kirchliches Reden meist als unverständlichen frommen Schein erleben - und nicht als hilfreiche, ihr Sein berührende "gute Nachricht"? Wie will Kirche "wachsen gegen den Trend", wenn Fach- theologen und Kirchenleitungen eine andere Sprache sprechen als Gemeinde und Öffentlichkeit?
Gott, Christus, Heiliger Geist, Sünde, Vergebung, Glaube, Evangelium, Auferstehung, ewiges Leben, Wort Gottes, Reich Gottes . . . All das sind Begriffe, die in Theologie und Kirche mit den unterschiedlichsten, oft sich widersprechenden Inhalten gefüllt werden.
War das Grab am Ostermorgen leer oder war es das nicht? Wird ein Mensch "allein durch den Glauben" von Gott gerechtfertigt - oder sind alle Menschen bereits vor Gott gerecht? Gibt es so etwas wie die 'Hölle' und 'ewige Verdammnis'? Warum sollte jemand Christ werden; bzw. was hat ein Christ, das ein 'Heide' nicht hat? Wer ist überhaupt ein Christ? . . . All das sind Fragen, auf die - wenn überhaupt - die unterschiedlichsten, oft sich widersprechenden Antworten gegeben werden.
Was stimmt denn nun? Dürfen wir dem Gott der Bibel vertrauen, der "auf dem Thron sitzt und spricht: Ich mache alles neu"? Oder sitzt dort keiner, der regiert, und dieser "Thron im Himmel" ist tatsächlich leer - wovon die Professoren von Herrn Dieckmann offenbar überzeugt sind und die Redaktion von "Zeitzeichen" samt deren "hochkarätiger Herausgeberschaft" zumindest verbreiten?
Können wir einem allmächtigen Gott und seinem Sohn glauben, "dem gegeben ist alle Macht im Himmel und auf Erden"? Oder nur auf die Kraft der Liebe hoffen, wie Frau Prof. Schneider-Flume meint und der sächsische Bischof seinen Gemeinden empfiehlt?
War und ist Jesus der Sohn Gottes? Oder ist dies nur eine Erfindung der Urgemeinde, d. h. der ersten Theologen - wie Prof. Lindemann und Kollegen sich wohl einig sind?
Was sollen wir denn glauben? Woran können wir "unser Herz hängen"? Worauf dürfen wir uns im Leben und im Sterben verlassen? . . .
Der Philosoph G. Rohrmoser schreibt in "Der Ernstfall" (Ullstein, 1995; S. 13f):
Was für die Politik gilt, dürfte erst recht für unsere Kirche gelten. Denn deren Lage erinnert inzwischen an den "Turmbau zu Babel": Ihre Erbauer laufen in alle theologischen Himmels- richtungen auseinander. Um das zu verhindern, bedürfte es eines einenden Zieles. Und es bedürfte einer geistlichen Führung, die Menschen für dieses Ziel überzeugen und begeistern kann. Damit die sich freiwillig und gerne und "von ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit allen ihren Kräften" - eben aus Glauben - dafür einzusetzen bereit sind. Doch selbst wenn es ein solches Ziel noch gäbe, wie sollte es innerhalb und außerhalb der Kirche vermittelt werden, wenn "ihre Sprache verwirrt ist, daß keiner des anderen Sprache verstehe"?
Kirche sei dort, "wo das Evangelium rein gepredigt wird". Wie will man mit 'unsauberen', mehrdeutigen Wörtern Evangelium 'rein' predigen? Wie will eine Kirche - erst recht eine Kirche der Freiheit - Bestand haben, die auf dem Sand einer schmutzigen, mißverständlichen Sprache erbaut ist? Solange das elementarste Werkzeug der "Kirche des Wortes" unbrauchbar ist, so lange dürften alle noch so gut gemeinten "Impulse" der Kirchenleitungen an den Realitäten des Kirchen- bzw. Gemeindealltages weithin wirkungslos verpuffen - wie Seifenblasen an Festungsmauern.
Oder frei nach Matthäus 23: Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Heil sucht in "Qualitätsniveau, Mitgliederorientierung, Themenmanagement, Agendasetting und Fundraising" und lasset dahinten das Wichtigste im Evangelium, nämlich das Wort - und mit ihm Wahrheit und Freiheit
A. Rau
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