Einführung
Im Herbst 2003 wurde der Thüringer Bischof Christoph Kähler zum stellvertretenden Vorsitzenden des Rates der EKD gewählt. Aus diesem Anlaß wurde er zitiert, ihm sei die die "Stärkung eines fruchtbaren Verhältnisses zwischen akademischer Theologie und Kirche bzw. Gemeinde" wichtig. Das ist wahrlich nötig! Doch wenn Theologen dies sagen, hat das mitunter den Beigeschmack: man müsse der Gemeinde - vorsichtig und möglichst schonend! - die neuesten Erkenntnisse der Akademiker beibringen.
Mag sein. Doch auch die Gemeinde sollte ihre Erkenntnisse ihren Fachtheologen mitteilen. ("Feed-back" heißt das wohl auf deutsch?) Genau dies möchte L tun. Allerdings, "vorsichtig und möglichst schonend" ist nicht sein Ding! Er schreibt, wie ihm der Schnabel gewachsen ist; frei von der Leber weg. Die Professoren mögen ihm dies verzeihen . . .
Dennoch, er schreibt nicht gegen sondern für, nämlich seine Kirche und deren Sache. Oder um die Worte eines später noch häufiger zitierten Theologie-Professors zu gebrauchen; S. XIII: "Es ist kein kompromißfreudiges Buch. Eine ordentliche Theologie macht keine Kompromisse. Dies unterscheidet sie von der Kirchenleitung, die notwendigerweise Kompromisse machen muß, aber, damit sie keine faulen Kompromisse macht, eine Theologie an ihrer Seite braucht, die eben keine Kompromisse macht. Dennoch ist dieses Buch in ökumenische Absicht geschrieben worden . . ."
Auch L's "Buch" ist in ökumenischer Absicht geschrieben; in der Hoffnung, einen Beitrag zu leisten für ein 'ökumenisches Gespräch' zwischen akademischer Theologie und Gemeinde.
Allerdings nicht nur das. Es ist auch eine Form von Notwehr. Denn hier in den Gemeinden kämpft man vielerorts um das nackte Überleben. Und was manche Theologens in dieser Situation ihrem Publikum zumuten, ist mehr als eine Zumutung. Deshalb müht L sich um eine deutliche Sprache. Er hofft darauf, daß theologische Akademiker so viel Souveränität besitzen, um über den 'eher undiplomatischen Stil' und manche ungeschickte bzw. bissige Formulierung hinwegzusehen. Und den H I L F E R U F dahinter hören . . .
Sicherheitshalber noch zwei Anmerkungen:
a) "L redet, wie er's versteht". Wahrscheinlich versteht er manches falsch. Aber so hat er's halt verstanden. So kommt akademische Fachtheologie 'hier unten' in den Gemeinden an!
b) Was L von sich gibt, dürfte nicht neu sein. Andere haben dies schon besser und genauer gesagt. Doch wie beim Tod eines Menschen sich stets die gleichen uralten Klagen erheben, so sollte auch die Gemeinde in ihrem Elend die alten Klagen immer wieder neu anstimmen. (Leider hört L solche Stimmen derzeit nicht; zumindest keine, die über ethische Themen hinaus die 'Substanz des Glaubens' ansprechen.)
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Der Theologe H. Conzelmann formuliert, was viele Laien unausgesprochen empfinden: "Die Kirche lebt praktisch davon, daß die Ergebnisse der wissenschaftlichen Leben-Jesu Forschung in ihr nicht publik sind."
Mit anderen Worten: Es gibt eine Spannung zwischen theologischer Wissenschaft und Kirche, zwischen Fachtheologie und Gemeindefrömmigkeit; zwischen dem, was und wie Theologen glauben, und dem Glauben 'der theologischen Amateure'.
Nun kann kein Mensch sagen, was das ist, 'die Fachtheologie' oder 'der Glaube der Gemeinde'. Es gibt hier wie dort die unterschiedlichsten, oft gegensätzliche Meinungen und Formen. Aber es gibt dennoch eine gewisse Grundströmung, eine Art Mittelwert, und da kommen beide Seiten halt nicht unter einen Hut.
Diese Spannung wird im Allgemeinen 'von oben', von den Theologen, ganz leicht gelöst: Laien sind den theologischen Problemen intellektuell nicht gewachsen und können sie mit ihren schlichten Gemütern glaubensmäßig nicht verkraften. Deshalb müssen sie mit väterlicher Nachsicht behandelt und mit theologischer Milch ernährt werden. Experten dagegen verzehren selbstverständlich feste Glaubensnahrung.
'Hier unten' in der Gemeinde bietet sich eine ähnlich einfache Lösung an: 'Die Theologen' sitzen in einem wissenschaftlichen Wolken-Kuckucks- Heim und haben keine Ahnung vom wirklichen Leben. Deshalb ist die Milch, die ihre Sendboten von den Kanzeln verabreichen, oftmals eine derart dünne und weltfremde Brühe, daß die Gemeinden langsam aber sicher an Unterernährung zugrunde gehen.
Beide 'Lösungen' sind zu einfach. Dennoch ist zu fragen, ob der oft traurige Zustand unserer Kirche nicht auch die Folge einer traurigen Theologie ist? Sicher nicht nur, aber eben auch mit . . .
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Ursprünglich wollte L kernige Aussagen verschiedener Theologen sammeln und genießen. Aber er ist überfordert von der Fülle des Stoffes. Unmöglich, diesen auch nur ansatzweise zu überblicken. Deshalb bleibt nur eines: er kauft sich ein markantes Werk eines herausragenden Fachmannes. Und versucht, darin die unendlichen Tiefen theologischer Weisheit zu ergründen. Aus aktuellem Anlaß hat er sich entschieden für:
Eberhard Jüngel
"Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens" (Mohr Siebeck, Tübingen 1998)
(Im Folgenden wird daraus ausgiebig zitiert. Alle Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Buch!)
Die gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre erschüttert gerade die Kirchengeschichte. Katholiken und Lutheraner schicken sich an, an Hand dieses - der europäischen Christenheit glühendheiß unter den Nägeln brennenden - Problems, 480 Jahre Glaubensstreit in eitel Harmonie zu verwandeln. Der Autor wurde empfohlen mit der (wohlwollenden!) Bemerkung: "Was der Papst für die Katholiken, ist Jüngel für die Evangelischen!"
Die Chancen sind nicht schlecht. Vielleicht hat L Glück und dieses Buch ist d e r Weg zum Herzen heutiger evangelischer Theologie?
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L ist recht schwatzhaft. Deshalb kann er sich nicht verkneifen, einigen Pfarrern von seinem heldenhaften Vorhaben zu erzählen. Die jedoch schlagen allesamt die Hände über den Kopf zusammen: "Ausgerechnet der Jüngel!? Der ist doch in Ordnung! Es gibt viel schlimmere, auf denen solltest du herumhacken - nicht auf Jüngel! Der ist gemäßigt, eher konservativ, fromm, gesunde Mitte . . ."
Aber genau das ist der Punkt! Das Problem sind nicht die Außenseiter, die mit extremen Positionen Aufsehen erregen wollen; deren Ansichten nur von wenigen geteilt werden. Das Problem ist die 'gemäßigte theologische Mitte', die - allgemein anerkannt - an den Universitäten den Ton angibt und so Verkündigung und Glauben unserer Kirche prägt.
L sorgt sich nicht um theologische Sonderlinge. L hat Fragen an die 'breite Masse' der theologischen Akademiker, an das Alltags-Gesicht unserer Kirche. Und genau dafür steht Prof. Dr. Jüngel. Er ist (bzw. war?) nicht zufällig berufenes Mitglied der Synode der EKD, Vorsitzender der Kammer für Theologie der EKD und Vorsitzender des theologischen Ausschusses der EKU.
Jüngel ist d i e (überragende) Spitze des 'theologischen Durch- schnittes' unserer Kirche. Und damit ist er genau die richtige Adressefür die Fragen der Gemeinde.
Nochmals: Es geht hier nicht um eine spezielle Theologie Jüngels; und schon gar nicht um seine Person. L versucht nur, heutige akademische Theologie an irgendeinem Punkt zu fassen. Daß es Jüngel erwischt hat, ist eher Zufall . . .
Und es geht auch nicht um 'die Pfarrer' oder gar um den (oder die) PfarrerIn XY. Es geht ausschließlich um 'd i e Theologie', die über unserer Kirche schwebt wie einst "der Geist Gottes über den Wassern" (1Mo 1,2f). Und es geht um "die Schöpfung, die diese Theologie durch ihr Reden ins Sein ruft". Wenn sie zum Beispiel in der Dunkelheit spricht:
"Es ist Licht!" . . .
Laie L hält sich für einen engagierten Ehrenamtlichen. Allerdings hat er eine Allergie gegen Sitzungen. Deshalb sitzt er in keinem kirchlichen Leitungs-Gremium wie z. b. Gemeinde- kirchenrat usw. Im Hauptberuf arbeitet L bei der DB AG. Er dreht dort Bahnschranken runter und wieder rauf. Dabei kommen mitunter die verrücktesten Gedanken. Und irgendwann hat er halt angefangen, diese aufzuschreiben.