J E S U S C H R I S T U S ? ? ?
EINE MEINUNG AUS DER GEMEINDE
IM DREIJÄHRIGEN GESPRÄCHSPROZESS DER EV.-LUTH. LANDESKIRCHE SACHSENS
Teil II
"Was Christum treibet!" steht in großen Lettern über der Diskussion um die "Homo-Ehe" in sächsischen Pfarrhäusern. Auch in der Debatte selber ist auffallend oft von Jesus Christus die Rede. Nur drei zufällig ausgewählte Beispiele: Im SONNTAG vom 22. 07. 12 wird OLKR D. Bauer zitiert, wir alle seien in der Kirche "weil Jesus Christus uns gerufen hat. Wir gehören alle zum Leib Christi." Und der Präsident der Landessynode O. Guse mahnt: "Jesus hat zwar nichts zur Homosexualität gesagt, aber zum Umgang miteinander sehr wohl." Auch OLKR Dr. P. Meis wünscht in ideaSpektrum 24/2012 "im Geist Jesu gesprächsbereit beieinanderzubleiben" und zitiert die "Bitte Jesu: 'Heiliger Vater, erhalte sie in deinem Namen, dass sie eins seien wie wir ...'" So wird Jesus Christus wieder und wieder und wieder als Zeuge benannt, der dem jeweiligen Anliegen frommes Gewicht verleihen soll. Doch es wird nie gesagt, wer genau denn dieser Jesus Christus ist, auf den sich alle berufen.
Christen glauben an Gott. Muslime tun das auch. Folglich gibt es Diskussionen, ob das der gleiche Gott ist? Oder ob beide Religionen zu unterschiedlichen Göttern beten? Die weltweite Christenheit ist ein bunt zusammengewürfeltes Gemenge. Alle, die sich dazu zählen, berufen sich auf Jesus Christus. Hier aber scheint niemand zu fragen, ob dabei immer von der gleichen Person gesprochen wird? Oder ob die einzelnen christlichen Gruppierungen vielleicht an verschiedene "Christusse" glauben? Dabei diese Frage ist gar nicht so abwegig!
Ich alleine weiß von mindestens dreien: Da ist zunächst der, an den ich selber glaube. Ich nenne ihn A): der "biblische Jesus Christus". Dessen Leben, Sterben und Auferstehen wird im neuen Testament beschrieben. Und zwar von Menschen, die wussten, was sie schreiben! Denn sie bezeugen, "was sie gesehen und gehört" oder zumindest "akribisch erkundet" haben von denen, "die es von Anfang selbst gesehen und Diener des Wortes gewesen sind". Dieser "biblische Jesus Christus" war wirklich und tatsächlich "wahrer Mensch und wahrer Gott". Für ihn gilt im Wortsinne: "empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten".
Die beiden anderen sind B) der "zerrissene Jesus Christus". Denn der Jesus Christus der heutigen Theologie besteht aus zwei verschieden, letztlich unabhängig voneinander existierenden Personen. Eine von denen gleicht der biblischen aufs Haar und ist dennoch eine völlig andere. Deshalb muß man sehr genau hinsehen, um zu verstehen, was tatsächlich von ihr gesagt wird. Der Schlüssel dazu war z. B. im SPIEGEL zu finden. In der Ausgabe 50/1999 stand ab Seite 130 "Ist Jesus dem Glauben im Weg?", ein Interview mit dem Theologen Prof. Andreas Lindemann von der kirchlichen Hochschule Bethel. (Bitte nicht verwechseln mit Prof. Gerd Lüdemann, Göttingen!) Hier einige - kurze! - Zitate:
"SPIEGEL: Laut Bibel hat Jesus Tote auferweckt, einen Sturm gestillt, ist über Wasser gegangen, hat fünftausend mit fünf Broten und zwei Fischen gesättigt, Wasser zu Wein verwandelt. War Jesus zu solchen Wundern, also zu Taten fähig, die vor oder nach ihm kein Mensch vollbracht hat?
Lindemann: Ich halte es für ausgeschlossen, dass Jesus die von Ihnen genannten Wunder getan hat (…)"
"SPIEGEL: Wie steht es dann mit der Bergpredigt? Dass Jesus sie gehalten hat, behauptet heute wohl kein ernst zu nehmender Exeget mehr.
Lindemann: Das stimmt. (…)"
"SPIEGEL: Hielt sich Jesus für Gottes Sohn?
Lindemann: Nein."
"SPIEGEL: (...) verstand auch Jesus selbst seinen Tod nicht als Sühnetod für die Sünden der Menschen (...)
Lindemann: Davon hat Jesus in der Tat nicht gesprochen. Die Worte, mit denen er seinem Sterben Heilsbedeutung zuschreibt, sind ihm nachträglich in den Mund gelegt worden (...)."
SPIEGEL: Wenn Jesus von seinem Sühnetod nichts wusste, kann er auch das Abendmahl nicht eingesetzt haben, nicht von seinem Blut gesprochen haben, 'das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden'.
Lindemann: Ich meine in der Tat, dass die Abendmahlsworte nicht historisch auf Jesus zurückzuführen sind. Die urchristliche Gemeinde hat ihren Glauben in Worte Jesu gekleidet."
"SPIEGEL: Was von all dem, was in den Evangelien über die Auferstehung steht, ist Legende?
Lindemann: Die Überlieferung vom leeren Grab und seinem Auffinden durch Frauen und Jünger, die unterschiedlichen Schilderungen der Begegnungen mit dem Auferstandenen und natürlich auch die Himmelfahrt.
SPIEGEL: War das Grab denn leer?
Lindemann: Das weiß ich nicht. Aber selbst wenn das Grab und Reste des Leichnams Jesu gefunden würden, würde dies meinen Glauben an die Auferweckung Jesu durch Gott nicht berühren."
"SPIEGEL: Der Papst (...) verkündet, die Evangelien seien zwar Glaubensschriften, aber 'als historische Zeugnisse nicht weniger zuverlässig'.
Lindemann: Ich kenne jedenfalls im deutschsprachigen Raum keinen Exegeten, auch keinen katholischen, der sich so äußert (...) Es ist (…) ein Missverständnis der biblischen Texte, wenn sie als Tatsachenberichte aufgefaßt werden." (1)
Prof. Lindemann spricht klar und verständlich aus, was er meint. Das ist ihm hoch anzurechnen ! ! ! Andere formulieren ungleich vorsichtiger, sprich: nebulöser. Deshalb sollte dieses Interview groß und unübersehbar in allen Gemeinden ausgehängt werden! Denn dort ist kaum bekannt, wie und was eine große Mehrheit der heutigen Theologen denkt: Sie hat den Sohn Gottes in zwei Teile zerrissen - in einen "historischen Jesus" und einen "kerygmatischen Christus". Der erste der beiden sei nicht Gott sondern nur Mensch gewesen. Z. B. hatte er einen menschlichen Vater; d. h. Maria war zum Zeitpunkt seiner Geburt keine Jungfrau mehr. Dieser Jesus soll ein charismatischer Wanderprediger gewesen sein, der für die Machthaber ein Problem war, weshalb sie ihn kreuzigen ließen. Er wurde begraben und ist im Grab verfault wie jeder andere Mensch auch.
Nach dem Tod wurden diesem "historischen Jesus" allerdings göttliche Eigenschaften angedichtet und Wunder zugeschrieben. Außerdem ranken sich zahlreiche Legenden um seine Person; z. B. empfangen durch den Heiligen Geist, Gottes Sohn, wahrer Gott, Sühneopfertod, die Bergpredigt, die Einsetzung des Abendmahles, das leere Grab, der Missionsbefehl, die Himmelfahrt usw.(1) All diese "lehrhaften Übermalungen" (M. Petzold), sprich: die Legenden und Mythen, nennt man den verkündigten, den "kerygmatischen Christus". Und der ist ein Produkt der menschlichen Phantasie.
Wenn also von Jesus Christus gesprochen wird, dann ist in weiten Teilen unserer Kirche nicht eine reale Person gemeint sondern eine von den ersten christlichen Theologen erdachte Sagengestalt, d. h. eine Sammlung von Legenden. Über die Detailfragen kursieren die unterschiedlichsten Meinungen. Dennoch, in einem sind die B-Theologen sich einig: Der Jesus Christus, der in unserer Kirche geglaubt, gepredigt und bekannt wird, hat in dieser Form niemals existiert. Er sei ein Gebilde aus Dichtung und Wahrheit, aus theologischer Phantasie und Geschichte.
Mit anderen Worten: So wie die heutige Theologie das Wort Gottes zerrissen hat, indem sie den Sinn vom Zeichen bzw. den Geist vom Buchstaben gelöst hat, so hat sie auch den Sohn Gottes zerrissen. Sie hat den Glauben von der Geschichte gelöst und die Theologie von dem wirklichen, dem historischen Jesus von Nazareth.
Das Ergebnis: Der "biblische Christus" ist an "das Gesetz oder die Propheten" gebunden. Er ist "nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen". Deshalb ist er am Kreuz für uns gestorben. Der "zerrissene Jesus Christus" von B) dagegen fliegt frei über "das Gesetz und die Propheten" dahin. Er ist weder an die Geschichte gebunden noch an die Bibel. Was der "historische Jesus" dachte, sei schwer zu sagen, denn nichts Genaues wüsste man nicht. Der "kerygmatische Christus" aber läßt sich treiben - und zwar immer genau dahin, wo der jeweilige Theologe ihn haben möchte. In der Folge tritt er mal als Feminist auf, mal als Umweltschützer, mal als Kämpfer für die Menschenrechte, mal als politischer Aktivist usw. usw. Derzeit betätigt er sich halt als Förderer der Homosexualität.
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"Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott", sagt Luther. Mein Herz hängt an Jesus Christus. Und zwar an dem, der mir in der Bibel begegnet. Dessen Leben und Bedeutung im Neuen Testament bezeugt wird. Der ist "mein Herr und mein Gott"! Ihm habe ich mein Leben anvertraut mit allem, was mit wichtig ist. "Sein Wort ist meines Fußes Leuchte" in guten und in schlechten Zeiten. Zu ihm bete ich; d. h. mit ihm teile ich alles, was mich bewegt. Auf ihn hoffe ich, wenn ich Hilfe brauche. An ihn klammere ich mich in der Not. Sein Sterben macht mich vor Gott gerecht. Seine Auferstehung schenkt mir die Gewissheit einer Zukunft weit über den Tod hinaus.
Nun kommt die christliche Theologie und will mir weismachen, das alles sei nur Einbildung: Die Evangelien bestünden überwiegend aus erfundenen Geschichten? Folglich sei auch "mein Herr und mein Gott" eine erfundene Gestalt? Er würde gar nicht existieren? Diese Theologen haben vermutlich nicht die Absicht, meinen Glauben zu zerstören! Aber sie scheinen mich für einen naiven Dummkopf zu halten, der primitiven Unsinn glaubt? (Mitunter fühle ich mich sogar als Terrorist verdächtigt, nur weil ich die Bibel beim Wort nehme.)
Wohlgemerkt: Ich habe mit Kirche schon die tollsten Geschichten erlebt. Deshalb kann sie mich kaum noch aus der Fassung bringen. Dennoch, hier tut sich ein unfassbar tiefer und breiter und letztlich auch böser Graben auf: Von Hirten wird erwartet, dass sie die Herde hegen und pflegen; dass sie die Schafe im Glauben stärken, ihnen Trost und Mut und Hoffnung geben. Doch heute empfinden Teile der Herde die evangelische Theologie als Gefahr, als Bedrohung. Gerade wache, engagierte "Schafe" sind voller Misstrauen und glauben ganz bewusst im Widerstand gegen die eigenen Oberhirten. Zumindest haben sie die Hoffnung aufgegeben, von dort Unterstützung zu bekommen.
Auch wenn viele diesen Graben nicht wahrnehmen können, andere ihn nicht wahrhaben wollen und die Kirche alles tut, ihn zu übertünchen – er hat verheerende Auswirkungen: "Ein jegliches Reich, wenn es mit sich selbst uneins wird, das wird verwüstet; und eine jegliche Stadt oder Haus, wenn es mit sich selbst uneins wird, kann nicht bestehen" (Mt 12,25). Selbst wenn die Kirchenleitung ihre Linie durchsetzt und wieder Ruhe einkehrt, der garstige Graben zwischen Fachtheologie und Gemeindefrömmigkeit wird bleiben. Doch wie will eine Kirche Bestand haben, wenn deren Theologen anderes lehren, als in den Gemeinden geglaubt wird? Denn welcher vernunftbegabte Mensch wird sein Herz hängen an einen Auferstandenen, der im Grab verfault ist? Und an einen erfundenen Erlöser, der bei näherem Hinsehen kaum mehr sein dürfte als eine zeitgemäße Version der alttestamentlichen Götzen: ein von Menschen gemachtes Bild?
(Die Kirchenleitung sitzt naturgemäß zwischen den Stühlen. Sie möchte es allen Seiten recht machen. Folglich ist sie weder warm noch kalt. Oder treffender: Sie gibt vor, mehreren Herren zu dienen. Welchem sie anhängt und welchen sie verachtet, kann man derzeit deutlich sehen.)
* * *
Durch die unterschiedlichen Christusse ist unsere Kirche zutiefst gespalten. "Homosexualität" bringt nur an die Oberfläche, was sich über Jahrzehnte hinweg an ganz anderer Stelle im Verborgenen angesammelt hat. Darum: wenn beide Seiten sich ehrlich und ernsthaft um Verständigung bemühen wollen, dann braucht es zunächst keinen Gesprächs-prozess über Homosexualität, auch nicht unbedingt einen über "Schriftverständnis", sondern es braucht zuallererst einen Gesprächsprozess über unser "Christusverständnis"!
Deshalb lautet die eigentliche, die entscheidende Frage: Wer genau ist gemeint, wenn von "Jesus Christus" gesprochen wird. Oder anders ausgedrückt: "So sehr hat Gott die Welt geliebt, das er seinen eingeborenen Sohn gab, auf das alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden sondern ewiges Leben haben" (Joh 3,16). Wer ist dieser eingeborene Sohn Gottes, an dem sich unser Schicksal in der Ewigkeit entscheidet?
Wenn unsere Kirche auf diese Frage eine klare, überzeugende Antwort findet, dann werden sich alle anderen Fragen auch klären lassen. Wenn sie diese Antwort schuldig bleibt, wird es auch in anderen Fragen keine Einigung geben.
(1) "Ist Jesus dem Glauben im Weg?"; Interview mit Prof. Andreas Lindemann, Bethel;
DER SPIEGEL 50/1999, Seite 130 ff.; http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-15239644.html
Andreas Rau
August 2012
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