Lieber Herr Rau, tagelang saß ich vor dem leeren Blatt und hatte den Horror vacui. Mir, der ich den Sonntag vollgepinselt habe, fiel einfach nichts ein, was ich hätte schreiben können, um für Sie eine Bilanz des Gesprächsprozesses zu ziehen. Und dann fiel mir ein, woran dies liegen könnte. Ich hatte ja gar keinen Prozess geführt. Ich hatte an dem Prozess auch gar kein wirkliches Interesse. Am Anfang unseres Austausches standen ja nur ein paar Sticheleien, die aus meinem Übermut erwuchsen. Aber dann wurde daraus etwas, was ich doch ein Gespräch im besten Sinne nennen möchte. Ein Gespräch zwischen A. Rau und Paul! Kein Prozess! Sondern – zumindest von meiner Seite – der Versuch einer Verständigung. Daneben gab es natürlich noch mehr GesprächspartnerInnen. Mit den einen ging es so, mit den anderen so. Aber mir ging es irgendwie innerlich nie um DEN Gesprächsprozess, welcher von der Institution Landeskirche angeregt wurde – auch und obwohl mir unsere Landeskirche wichtig ist.
Das liegt zum einen einmal daran, dass ich bestimmte Erwartungen an die Institution Landeskirche und an Ämter (Bischof, PfarrerInnen – also Offizielle) habe und andere Erwartungen nicht. Manche Sachen können Institutionen nicht leisten. Sie können etwa Gesprächsprozesse wünschen und initiieren, diese aber nicht führen.
Zum zweiten interessiere ich mich nicht wirklich für die Ansichten der LKGs in Sachsen, der Pietisten, der "Frommen", der ErzgebirglerInnen und VogtländerInnen. Das ist nicht despektierlich gemeint. Es ist bei mir einfach so. Das berührt meine Lebenswelt nicht. Genauso wenig interessiert mich liberale oder konservative Theologie oder TheologInnen. Mit denen habe ich zwar öfter zu tun, aber auch sie berühren mein Herz nicht. Sollen die doch denken und machen und wollen, was sie wollen – solange sie meine Kreise nicht stören, ist es mir egal.
Nun ist es aber eben zwischen uns beiden (und anderen) zu einem Gespräch gekommen. Mehr und mehr habe ich mich für Sie interessiert. Nicht für ein Phänomen, nicht für einen Pietisten oder Krawallfrommen, sondern für A. Rau, für seine Meinung, seine Fragen, seine Antworten – seine Lebenswelt. Sie haben für mich ein Gesicht gewonnen – wie andere auch. Wenn ich also eine Bilanz ziehen soll, kann ich es nur im Blick auf unser Gespräch. Wenn Sie das wollen, dann nehmen Sie das, was ich Ihnen hier anbiete.
Und damit markiere ich gleich einmal einen der für mich wichtigsten Unterschiede zwischen uns: Sie wollten und wollen das Persönliche aus den hier Gesprächen heraushalten. Ich meine, dass es in Fragen des Glaubens und in den meisten Fragen – zumindest in den wichtigen – die wir in den zwei Jahren verhandelt haben, keine nicht-persönlichen Mitteilungen geben kann. Von dem, was wir verhandelt haben, kann ich nur in der ersten Person reden. Es geht in diesen Fragen um mich. Und wenn ich mit dir rede, geht es um dich! Wenn wir andere Fragen bedacht haben, dann sind diese in gewissem Sinne unwichtig. Das hatte ich Ihnen mehrfach geschrieben – und davon kann ich auch hier nicht abrücken. Also wenn Sie das, was ich Ihnen hier anbiete, so nehmen, steht es Ihnen zur freien Verfügung.
Eine Sprache verstehen, heißt, eine Lebenswelt verstehen → dieser Gedanke hat mich in der Zeit unseres Austausches bewegt. Wie kann ich dich – wie kannst du mich verstehen, wenn wir die Welt, in der wir leben, nicht verstehen/ kennen. Wenn wir uns die Gespräche jenseits des Lärmens und der – sozusagen – Sportübungen zur Stress-Abfuhr anschauen, ergibt sich für mich folgendes Bild: Zuerst war ich nicht interessiert, mich wirklich auf die Fragen einzulassen, weil ich überzeugt war, dass Sie gar keine Fragen haben. Es waren dann zwei Reaktionen von Ihnen, die mich zumindest ins Grübeln brachten: A.Rau sagt: 23. August 2012 um 21:38: "Lieber Paul, darf ich mal eine ernsthafte Frage stellen, Ihnen und allen, die Ihres Geistes sind? … Bei schönem Wetter funktioniert Ihr Schriftverständnis tadellos. Doch wenn “ein Platzregen fällt und die Wasser kommen und die Winde wehen” – wer garantiert Ihnen, dass das, was sie glauben tatsächlich “Gottes Wort” ist und eben nicht “Pauls Wunschdenken”?" Auf meine eher verhaltene Reaktion schrieben Sie dann unter A.Rau sagt: 23. August 2012 um 22:21: "Lieber Paul, Ihre Präzision ist beeindruckend!!! Aber das ist eine grundsätzliche Erfahrung mit Ihrer Seite: Sie sind ganz hervorragend, wenn es darum geht, andere zu kritisieren. Sobald Sie aber die eigene Position positiv und konkret beschreiben sollen, argumentieren Sie auffallend schwammig oder tauchen gleich ganz ab."
Dem wollte ich mich gerne stellen. Damit begann in gewisser Weise unser Gespräch. Wiederum Ihre Reaktion auf meine Antwort unter Paul sagt: 24. August 2012 um 09:02: "Lieber Herr Rau, zur Illustration: Ich war mal auf einer dramatischen Beerdigung. Der Pfarrer sagte dann sinngemäß, dass ihm die Worte fehlten und das er sich deshalb die Worte des Psalmes borgen würde – ich weiss nicht mehr, welcher Psalm. Und diese Worte an diesem Ort waren keine objektiven Wahrheiten, das war subjektiver Trost auf höchstem Niveau. Da war uns allen egal, was Exegeten zu dem Psalm sagen würden oder Fundamentalisten – wir (oder vielleicht sollte ich besser sagen ich) habe gespürt, dass Gott jetzt redet." unter A.Rau sagt: 24. August 2012 um 09:12: "Lieber Paul, es ist jammerschade. Wir sind hier an einem Punkt, der was bringen könnte. Aber ich habe wirklich keine Zeit … Alles Gute!" (http://a.sonntag-sachsen.de/2012/07/19/erst-horen-dann-reden/comment-page-20/#comment-13537 f.) begründete die Hoffnung, dass es mir gelingen könnte, Ihnen meine Lebenswelt bekanntmachen zu können.
Heute glaube ich nicht mehr, dass es mir gelungen ist, Ihnen meine Sprache/ meine Lebenswelt verständlich zu machen. Vielleicht konnte ich Ihnen eine Landkarte zeigen oder Sie gar in dieser meiner Lebenswelt ein bisschen herumführen. Aber ich glaube nicht, dass Sie meine Sprache verstehen gelernt haben. Und ich glaube heute auch nicht mehr, dass es überhaupt möglich war – ohne, dass Sie oder ich daran schuld waren.
In einem Buch von Paul Feyerabend (Erkenntnis für freie Menschen) habe ich eine mir einleuchtende Erklärung dafür gefunden, die ich Ihnen kurz skizzieren möchte.
Feyerabend spricht von verschiedenen Traditionen, in denen Menschen jeweils leben. Ich sehe Verbindungen zur Sprachspieltheorie, aber es steht da noch eine andere Idee dahinter. Denn ich kann vielleicht beliebig ein anderes Spiel spielen (etwa als Wissenschaftler, der neurobiologische Prozesse beobachtet und als Verliebter dann Gedichte aufsagt), aber nicht ohne weiteres aus meiner Tradition aussteigen. Tradition steht für Lebensüberzeugungen/ -sichten oder Weltanschauungen und ähnliches. Nun gibt es verschiedene Traditionen → religiöse, wissenschaftliche, traditionalistische, in bestimmter Weise soziologisch geprägte, …, die alle nach verschiedenen Vorstellungen funktionieren. In all diesen Traditionen herrscht eine Logik. Aber: Eine Logik, die in einer bestimmten Tradition stimmt, muss deshalb in einer anderen Tradition nicht stimmen – nicht einmal eine Logik in einer wissenschaftlichen Tradition in einer anderen wissenschaftlichen Tradition (Schulmedizin - Alternativheilkunde). Dies gilt auch im Religiösen und überall sonst. Etwas, das in Ihrer Tradition unbedingt logisch richtig sein muss/ richtig ist – etwa, dass eine als Jungfrau bezeichnete junge Frau, die den Gottessohn gebiert, im gynäkologischem Sinne Jungfrau sein muss – kann in einer anderen Tradition anders sein. Innerhalb dieser anderen Tradition ist dann etwas anderes vollkommen einsichtig – etwa, dass die Bezeichnung Jungfrau eine Aussage über den Gottessohn ist und nicht über die Frau, die den Gottessohn gebiert – und das unabhängig davon, ob diese Frau nun in einem gynäkologischem Sinne Jungfrau war oder nicht.
Wenn Sie also ihre Logik an meine Vorstellungen anlegen, müssen Sie zwangsläufig zu Ergebnissen kommen, die nicht mit dem zusammenpassen, was ich meine. Und aus Ihrer Tradition heraus – die ich ja wirklich kenne – sind es nicht nur andere Ergebnisse, zu denen ich etwa komme. Diese sind auch fundamental falsch, gefährlich und glaubensgefährdend. Wenn Sie aber verstehen wollten, was ich meine, müssten Sie meine Logik anwenden. Da diese jedoch aus Ihrer Tradition heraus eben falsch, gefährlich … ist, wäre es aus Ihrer Sicht ja vollkommen töricht, wenn Sie dies täten.
Das führt zu einem zweiten Gedanken. Feyerabend unterscheidet zwischen Beobachtern einer Tradition und Teilnehmern. Wir alle sind beispielsweise Beobachter der Tradition Islam. Als solche vermeinen wir eventuell, einen objektiven Standpunkt einzunehmen – so und so ist DER Islam, so und so verstehen Muslime das und das – und daran sieht man, dass es falsch ist. Aber das ist natürlich Unsinn, weil wir als Beobachter natürlich auch in einer Tradition leben resp. die Art und Weise, wie wir beobachten, von einer Tradition geprägt ist. Ob unsere Beobachtungen dann aber dem Selbstverständnis der Teilnehmer der beobachteten Tradition entspricht, ist nicht gesagt (Herrn Flessing gegenüber hatte Paul von Innen- und Außenperspektive gesprochen.). Es ist sogar sehr unwahrscheinlich, dass unsere Sicht dem Selbstverständnis eines Teilnehmers einer Tradition entspricht. Das führt dann leicht dazu, dass die Teilnehmer sich unzureichend oder gar nicht verstanden fühlen, wenn der Beobachter die Tradition dieser Teilnehmer beschreibt. Dieses Gefühl hatte ich sehr oft (Etwa, als Christoph mich in den Texten von Rodenberg beschrieben fand und mit Ihnen übereinstimmte [http://a.sonntag-sachsen.de/2014/02/27/weniger-ist-mehr/comment-page-8/#comment-96180 A.Rau sagt: 2. April 2014 um 10:54 "Lieber Christoph, danke für Deinen 4-teiligen Text. Ich kann ihn ohne Wenn und Aber unterschreiben. Genau so habe ich Paul auch verstanden." - http://a.sonntag-sachsen.de/2014/02/27/weniger-ist-mehr/comment-page-10/#comment-96267 Christoph sagt: 4. April 2014 um 07:01 "Was mich aber etwas verwundert (und ich hoffe Sie auch) ist, dass sowohl Herr Rau als auch ich Sie in diesen Zeilen trefflich beschrieben fanden."].). Ich dachte lange Zeit, dass Sie mich absichtlich falsch verstanden haben, weil Sie mich falsch verstehen wollten. Dabei konnten Sie mich vielleicht gar nicht "richtig" verstehen, weil es dieses "richtig" für Sie in Ihrer Tradition gar nicht gab.
Feyerabend führt noch den skeptischen Teilnehmer ein. Dieser betrachtet seine eigene Tradition, in der er selbstverständlich lebt, kritisch und setzt sich in ein Verhältnis zu ihr. Das heißt, er macht sich klar, dass es eben eine – EINE – Tradition neben anderen ist. Sie hat ihre Berechtigung aus seiner Sicht – er hält sie für richtig. Aber eben nur, weil er der Logik zustimmt, die in dieser Tradition vorherrscht. Ihm ist nicht nur klar, dass es aus anderen Sichten anders aussieht. Er kann sich über die eigenen Begrenzungen (in Grenzen) durchaus klar sein.
Nun meine ich, dass ich ein skeptischer Teilnehmer meiner Tradition bin, der sich im Rahmen des Möglichen klarzuwerden versucht über die eigenen Vorstellungen. Als Beobachter kann ich mich auch auf andere Sichten einlassen und Verständnis für sie entwickeln – so hat Paul mehrfach darauf hingewiesen, dass einige Teilnehmer aus ihrer (in dem Fall auch Ihrer) Tradition heraus aus der Perspektive dieser Tradition Paul vollkommen zu recht so betracht(et)en wie sie ihn betracht(et)en. Das ist ein Akt der Relativierung meiner eigenen Sicht, weil ich mir bewusst bin, dass es eben meine Sicht ist und nicht die einzig mögliche Sicht (Besonders deutlich und intensiv haben wir das im Blick auf die Opfertheologie bedacht.) - eben, weil es keinen objektiven Standpunkt gibt, den WIR einnehmen könnten (etwa im Gegensatz zu Gott – der – so glaube ich wenigstens – diesen Standpunkt hat). In dieser Perspektive konnte ich meinen Toleranz-Ansatz entwickeln, wonach ich meine Wahrheitsansprüche im Blick auf andere relativiere, soweit ich sie nicht erweisen kann. Ich konnte und kann Ihnen den Wahrheitsgehalt meiner Sicht nicht erweisen – Sie glauben mir ja immer noch nicht. Nach meinen Überzeugungen habe ich nichts in der Hand, was ich legitim gegen Sie in Anschlag bringen kann außer meiner Argumente. Argumente sind aber nur Argumente, wenn sie als solche anerkannt werden – also kann ich Ihnen nichts tun, als Sie um Sorgfalt bei Ihren Betrachtungen meiner Sicht zu bitten; sich also, um zu verstehen, was ich meine, auf die Logik meiner Tradition einzulassen. (Aber das können Sie in der Logik Ihrer Tradition ja nicht, weil Ihre Wahrheit unabhängig von Ihnen absolut ist und absolute Geltung fordert. Sie haben einen absoluten Standpunkt und die objektive Wahrheit [Und dass Sie diese nicht erweisen können, ficht Sie nicht an. Sie haben Kerne, die Sie niemanden zeigen können; Sie haben Berge, die nicht fliegen; Sie haben noch Augen und Hände – aber keinen Grund dafür. Aber Sie haben eben auch Ihre Logik, die nicht die meine ist – eine Logik, die in Ihrer Tradition gilt.]. Deshalb ist etwa auch die für mich und viele andere eigentlich ethische Frage um Anerkennung homosexueller Partnerschaften für Sie eine Bekenntnisfrage. Da geht es um alles.)
Anders herum ist es natürlich genauso. Ihr Unterscheidung von Kern und Matsch hat in meiner Tradition keinen Sinn. (Hier wäre die Sprachspieltheorie vielleicht ein besserer Schlüssel zum Verständnis.) Das, was Sie als Kern empfinden, ist für mich nichts anderes als eine Floskel – wenn ich ihn denn als etwas "objektives" anerkennen sollte. In Ihrer Unterscheidung "echter Jesus" gegen "kerygmatischen Christus" wird das deutlich. Sie behaupten, den echten Jesus zu haben – den aus dem NT. Aber ich sehe Ihren echten Jesus nicht. Ganz im Gegenteil: Im NT finde ich ausschließlich den kerygmatischen Christus – der, den die Evangelisten und Paulus verkündigen. Denn der echte Jesus ist nur der, der damals im Fleisch auf Erden wandelte und der, der mir – ich weiß nicht wie – im Gebet oder in einem mystischen Widerfahrnis gegenwärtig wird (Leider weiß ich nicht, wie dies geschieht; wie er das macht; wie ich es Ihnen beweisen könnte.). Sie aber erzählen von ihm wie von Ihren Kernen, die Sie zu haben vorgeben – als seien sie etwas objektives. Aber Sie können diese genauso wenig vorweisen, wie ich Ihnen meine Wahrheitsansprüche vorweisen kann. Und natürlich: Auch mich überzeugen die Argumente nicht, die Sie vorbringen und die für Sie überzeugend sind. Denn für Sie sind die Kerne, die Sie postulieren, etwas objektives, weil Sie sich subjektiv (oder intersubjektiv, da Sie dies ja in einer Tradition mit anderen Teilnehmern so sehen) dazu entschieden haben. (Die Bibel ist das Wort Gottes. Das steht in der Bibel. Und weil die Bibel ja Gottes Wort ist [steht ja in der Bibel], ist es die Wahrheit – denn Gottes Wort kann nicht falsch sein. Also ist bewiesen, dass die Bibel Gottes Wort ist. – Diese Gedanken führen uns ganz an den Anfang. Und sie zeigen das Grundproblem ganz gut. Für Sie ist der Gedanke eventuell einsichtig. Für mich nicht. Nach Ihrer Logik stimmt es, nach meiner Logik nicht. Welche Logik ist richtig? Formallogisch ist das, was Sie da vorbringen, natürlich Unsinn. Aber wer sagt, dass die formale Logik recht hat – die ja auch nur in einer Tradition richtig ist?
Nun stehen wir vor dem Problem, dass Ihre Tradition Ihnen keine Relativierung erlaubt. Das macht aber nicht nur die Auseinandersetzung zwischen uns beiden schwierig (Wir könnten uns ja freundlich betrachten, ohne dass etwas schlimmes passierte.). Auch beim Gesprächsprozess ist mir nicht klar, wie ein für beide Seiten befriedigendes und ein die Sache befriedendes Ergebnis aussehen sollte oder könnte. Würde es Ihnen reichen, wenn Sie Ihre Sicht behalten könnten und Gemeinden, wo es die Mehrheit so sieht wie Sie, ihre eigenen Regeln haben – etwa bei Stellenbesetzungen? Oder müssten Ausbildungsstätten erlaubt werden, an denen Leute so ausgebildet werden, wie Sie es wünschen, und diese dann gleichberechtigt zum Pfarramt zugelassen werden? Oder muss die Kirche werden, wie Sie meinen, dass sie sein solle, damit Sie zufrieden sind? Deshalb eine Bilanz für mich: Ich habe versucht, mich verständlich zu machen – und bin gescheitert. Aber es lag nicht an mir und vielleicht auch nicht an Ihnen. Es trennt uns nämlich kein Graben, sondern vielmehr eine Mauer. Wir leben mit Festlegungen. Aber ich kann mich auf Ihre Festlegungen einlassen, weshalb ich Ihnen Ihr Recht zugestehen will, es so zu sehen, wie Sie es sehen – auch, wenn ich es für vollkommen falsch halte. Können Sie mir zugestehen, dass ich Recht haben könnte – und mir deshalb das Recht zugestehen, es so zu sehen? Wenn ja, können wir uns beide das Recht zugestehen, entsprechend unserer Überzeugungen zu handeln, OHNE die anderen dann zu beschränken – wobei es dafür sicher für beide Seiten Grenzen gibt und es ganz bestimmt auch gemeinsame Grenzen gibt für das, was wir als (christlich) möglich betrachten? Und daran schließt an: Können Sie mir zugestehen, dass ich das, was ich tue, um Gottes Willen tue – etwa mich dafür einsetze, dass homosexuell empfindende Menschen, die sich lebenslange Treue
versprechen wollen, um in einer verantwortlichen Partnerschaft zu leben, auch den Segen Gottes in einem Gottesdienst zugesprochen bekommen – auch, wenn das aus Ihrer Sicht vollkommen falsch ist?
Ein weiterer Punkt: Sie haben immer wieder die Machtfrage gestellt. Diese Frage ist in mehrfacher Weise schwierig. Einmal vergiftet sie alles. Sie unterstellt der Gegenseite, dass sie ihre finsteren Absichten mit finsteren Mitteln durchsetzt. Da es sich in unserem Falle an Lutz Scheufler festmachte – dass ein unbescholtener Mensch, der sich für die Rettung der Kirche vor dem Antichristen eingesetzt hatte, nun die Folgen tragen musste, weil die Machthabenden an ihm ihr Mütchen kühlten. Hier das Volk, die Guten, die, die mit Ernst Jesus nachfolgen und da die Schriftgelehrten und Sadduzäer, die die armen Frommen verfolgen. Wenn das wirklich Ihre Sicht ist, ist ein Gesprächsprozess vollkommen sinnlos. Und nach meiner Logik und Tradition verkennt diese Sicht nicht nur die konkrete Situation, sondern sie lässt auch jedes historische Verständnis vermissen.
Zum zweiten wird Macht immer mit einer Grabenseite verbunden – eben hier die guten Frommen, die keine Macht und dort die bösen Nichtfrommen, die hinterhältig alle Macht in der Kirche an sich gerissen haben. Und alles wäre gut, wenn die guten Frommen die Macht hätten. Damit verkennen Sie meiner Ansicht nach die Dynamik der Macht. Macht ist nicht neutral, sondern IMMER diabolisch. In den Harry-Potter-Büchern formuliert Dumbledore es so, dass er, der er nach Macht strebte, bewiesen habe, dass er nicht in der Lage sei, damit umzugehen – obwohl er doch das Gute wollte, während die, die keine Macht wollten – wie etwa Harry Potter, dann bemerkten, dass sie ihnen ganz gut stünde. Da Sie Herr der Ringe mögen – oder zumindest Gimli, den Zwerg: Derjenige, der am ungeeignetsten ist, den Ring der Macht zu tragen, vermag (fast), ihn zu tragen. Am Ende braucht selbst er Hilfe. Sie können es auch biblisch haben: Wer groß unter euch sein will, der sei euer aller Diener! Und weil wir heute wissen, wie Macht wirkt, wird Macht begrenzt. Der Bischof allein hat keine Macht. Das LKA allein hat keine Macht. Der Landesjugendpfarrer allein hat keine Macht. Es gibt Instanzen, die Mitarbeitende schützen. Es gibt Gremien und Institutionen, welche die Macht einzelner begrenzen. Und es gibt Gesetze und Gerichte, die Menschen gegen die Machtansprüche und den Machtmissbrauch von Einzelnen und von Institutionen – sogar von Staaten – schützen. Anders ausgedrückt: Hätte Ihre Seite die Macht, ihre Ansprüche ungeschützt durchzusetzen, würde es kein bisschen besser aussehen – eher schlimmer. Warum? Weil die Leute auf Ihrer Seite gewiss sind, über die Wahrheit zu verfügen oder sich im Dienste der Wahrheit wissen. Und wenn es um die Wahrheit geht – was sollen dann Gesetze? Alle, die es erlebt haben, wissen, wie subtil Macht gerade in sogenannten frommen Gruppen ausgeübt wird – immer mit Gott im Rücken!
Nun können wir die Machtfrage nicht umgehen. Dann aber bitte nicht im Opfergestus. Nicht in der Haltung der Selbstimmunisierung. Nicht in der Überzeugung, dass auf der anderen Seite schon der Antichrist sein Unwesen treibt. Denn dann gibt es keinen Gesprächsprozess – mit dem Antichristen verhandle ich nicht. Und wenn ich in Ihren Augen seine Werke betreibe, kann ich Sie nur warnen, mit mir zu reden.
Unsere Kirche ist so strukturiert, dass sich alle beteiligen können. In der Synode kommen Menschen mit verschiedenen Frömmigkeitsformen zusammen. Die Landeskirchlichen Gemeinschaften können ihre Angelegenheiten sehr weitgehend selbst regeln und werden darin von der Landeskirche unterstützt. All das lebt nicht von Zugeständnissen in theologischen Fragen – soweit sie nicht prinzipielle Überzeugungen der lutherischen Kirche verletzen: Kindertaufe muss bejaht werden, ebenso die Frauenordination. Wer aber die Verbalinspiration behaupten will, kann dies tun. Wer Homosexualität mit dem Verweis auf die Bibel ablehnt, kann dies tun – wird sich allerdings mit anderen Überzeugungen konfrontiert sehen, die diese Haltung sehr deutlich infrage stellen – und zwar in exegetischer Hinsicht ebenso wie in humanwissenschaftlicher und einiger anderer. Wer der gesamten Kirche die eigene Haltung zum Maßstab machen will, muss schon ein bisschen mehr bringen – etwa die Elia-Karte spielen.
Wir können es gut oder schlecht finden, aber die Kirche hat ein paar demokratische Elemente. Minderheiten genießen weitgehende Schutzrechte – gerade die, die hier als Fromme galten. Aber die Schutzrechte, die weitergehen, als mir lieb ist, schließen nicht ein, dass nur die Meinung gelten darf, die von dieser Minderheit bestätigt wird – und zwar aufgrund sehr schwacher Gründe.
Innerhalb dieses Rahmens setze ich mich für meine Überzeugungen ein, begründe, so gut ich kann, akzeptiere bestimmte Dinge, die ich falsch finde und halte aus, dass es in dieser Kirche Menschen gibt, mit denen ich kaum Übereinstimmungen finde, weil ich die Regeln zu akzeptieren bereit bin. Und ich kann mich auf verschiedene Sichten einlassen, wenn ich Gründe sehe, Begründungen, welche ich nicht teile, aber nachvollziehen kann (Luap hatte unter http://a.sonntag-sachsen.de/2013/10/17/lehren-aus-limburg/comment-page-12/#comment-88575 eine Anmerkung in dieser Richtung gemacht - Luap sagt: 1. Dezember 2013 um 14:13: "Aber ich habe was gegen Fundamentalisten (bitte nicht mit Biblizisten, Evangelikalen, Bibeltreuen, theologisch Konservativen verwechseln – auch wenn die heute häufig in einen Topf geworfen wird und auch wenn es da zuweilen Überschneidungen gibt)." Darauf erwiderte Paul unter Paul sagt: 2. Dezember 2013 um 05:28: "Glauben Sie mir, dass ich diese Leute nicht verwechsle? Ein Merkmal ist Diskursfähigkeit. Und daneben die Fähigkeit, andere Meinungen als begründet zu akzeptieren – auch, wenn man sie nicht teilt.")
So als persönliche Bemerkungen noch: Es hat über sehr weite Strecken viel Spaß gemacht. Unser "Forum für gestörte Erwachsene" war ein witziges Übungsfeld fürs Argumentieren und Polemisieren. Ich habe Welten kennengelernt und Menschen, mit denen ich in meinem Leben nie zusammengekommen wäre. Einige hätte ich zu gern persönlich kennengelernt, einige hab ich kennengelernt. Sie haben mich oft an die Grenzen meiner Belastbarkeit gebracht. Sie haben mich genötigt, mich wieder intensiver mit Theologie zu beschäftigen – nachdem mein Denken sich vor allem um philosophische Fragen gedreht hat. Sie haben mich gezwungen, verschüttet geglaubtes Wissen hervorzuholen. Und ich habe die Diskussionen mit Ihnen und mit anderen genossen. Für all das bin ich dankbar – auch Ihnen dankbar. Einige andere müssten jetzt hier noch genannt werden.
Und: Vieles hat mich angerührt. Manches Statement von Christoph, vor allem aber einige Beiträge von Ihnen. Beispielhaft, was Sie unter A.Rau sagt: 8. April 2013 um 18:03 schrieben: "… Zunächst ein Umweg: Nicht “was” sondern “wo ist Wahrheit”. Wo finde ich sie? Ich habe ein Herz; ein fragendes Herz, ein suchendes Herz, ein blutendes Herz, eines voller Hoffnung und Sehnsucht, ein einsames Herz … Vor wenigen Monaten noch hat nicht viel gefehlt und Paul und A.Rau hätten sich gegenseitig massakriert. Doch dann habe ich entdeckt, Paul hat auch ein Herz. Er hat nicht nur ein sondern mehrere dicke Felle. Doch unter all den zähen Häuten verbirgt sich genau so ein Herz, wie ich es auch habe. “Einen Menschen lieben, heißt einen Schatz zu entdecken, der allen anderen verborgen bleibt.” (Quelle ?) Ich liebe Paul! Ich habe in ihm einen Schatz gefunden, der – zugegeben – mitunter schwer zu entdecken ist. Aber er ist da. Und dort in diesem Herzen habe ich Wahrheit gefunden. Diese Wahrheit kennt kein Richtig oder Falsch, kein Gut oder Böse. Im Tiefsten unseres Herzens sind wir alle nackt und bloß. Da schweigt alle Kritik. Dort begegne ich dem Menschen, dem Bruder, dem Du … Dort müssen und können wir zunächst lange Zeit nur gemeinsam schweigen."
Eine letzte Hoffnung: Hoffentlich haben wir/ hat Paul/ habe ich niemanden zu sehr verletzt/ verstört. Möge Gott uns und unserer Kirche Heilung schenken.
Ein letzter Gedanke – den hatte ich schon mal, als Sie sich endgültig aus dem Forum verabschiedet hatten (Wer sich von Euch noch nie endgültig aus dem Forum verabschiedet hatte, werfe …!) - finden Sie unter Paul sagt: 12. Dezember 2013 um 09:36 (http://a.sonntag-sachsen.de/2013/10/17/lehren-aus-limburg/comment-page-16/#comment-89256 ): "Gestatten Sie mir einen letzten Wunsch? Egal, wohin es Sie treibt, verschlägt oder wohin Sie gehen – werden Sie nicht bitter. Bitterkeit heilt so schwer."
Herzlich
Ihr Paul
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