Geständnis
Ich gestehe: Ich bin ein Fundamentalist. Ich gehöre zu denen, die ihren Glauben mit Gewalt und Terror verbreiten; die Flugzeuge in Hochhäuser rammen, Bomben in U-Bahnhöfen legen und Abtreibungsärzte erschießen.All das habe ich zwar noch nie getan und habe es auch nicht vor; aber ich tue etwas, das noch schlimmer ist: ich glaube an das Wort. Ich glaube, daß Worte eine klare, eindeutige Bedeutung haben; daß Sprache konkrete Aussagen formuliert; daß in Worten Wahrheit ist. Ich glaube, daß Worte das Fundament unseres Lebens sind; daß Sprache den Mensch zum Menschen macht.
Wenn zum Beispiel geschrieben steht: "Du sollst nicht Töten", dann bedeutet das: Du sollst nicht töten. Oder wenn gesagt wird: "Christus ist auferstanden", dann ist gemeint: Christus ist auferstanden. Und wenn ich im Gottesdienst bekenne: "Ich glaube an Gott den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde", dann heißt das: Ich glaube, daß Himmel und Erde von einem allmächtigen Gott geschaffen wurden. Oder wenn am Anfang eines Gottesdienstes gesprochen wird: "Unsere Hilfe kommt von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat", dann vertraue ich auf die Hilfe dieses Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.
Man kann solchen Aussagen zustimmen oder sie ablehnen; man kann dies glauben oder nicht - aber wenn ich etwas sage, dann meine ich, was ich sage. Und ich nehme die Bibel beim Wort. Als Christ bin ich stolz auf diejenigen, denen das ungleich besser gelang, als es mir gelingt. Mutter Teresa, Martin Luther King oder Franz von Assisi kann ich nicht kopieren, aber ich halte sie für Vorbilder für die ganze Menschheit. Die Nonnen und Mönche in den Klöstern zählen zu den Wurzeln unserer Kultur. Die Schwestern und Brüder in evangelischen Kommunitäten sind ein Segen für viele Menschen. Unsere Kirche bräuchte dringend noch viel mehr Menschen, die vom Glauben nicht nur reden, sondern ihn mit ihrem ganzen Leben verkörpern.
In unserer Kirche glaubt man nicht an das Wort; in unserer Kirche glaubt man an "Interpretation": man gibt einem Wort jeweils die Bedeutung, die gerade erwünscht ist. Der Hörer (oder Leser) versteht einen Text nicht so, wie der Text es verlangt - sondern so wie es ihm, dem Hörer, gefällt. Und der Sprechende formuliert sein Reden nicht so, wie die Worte es fordern - sondern so wie es ihm, dem Sprechenden, nützlich erscheint. Die Worte sind nicht freie Herren der Sprache, sondern werden zu Sklaven der Theologen gemacht.
Die Bibel gilt "als ein Spielfeld, auf dem mit einem begrenzten Zeichenbestand eine unbegrenzte Zahl von Kombinationsmöglichkeiten und daraus resultierende Sinneffekte im Akt des Lesens entstehen" (Prof. Dr. S. Alkier, Frankfurt/M). "Was Christum treibet" sei die Mitte der Schrift, die "unterschiedlich interpretierbar und unbegrenzter Entfaltung und Differenzierung fähig" sei (Prof. Dr. W. Härle, Heidelberg).
Also wird "unbegrenzt" entfaltet, differenziert und kombiniert. Man denkt, Maria war alles andere nur keine Jungfrau - und bekennt dennoch: "Ich glaube . . . geboren von der Jungfrau Maria." Man ist überzeugt, Jesus sei im Grab verfault wie jeder andere Mensch auch - aber man predigt: "Christus ist auferstanden!" Man hält Kritik an der Evolutions-Theorie für Schwachsinn - aber man verkündet: "Ich glaube an Gott . . . den Schöpfer des Himmels und der Erde". Man bezeugt: "Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat" - und meint: "Unsere Hilfe steht im Namen des Menschen (bzw. der evangelischen Kirche)." Man redet vom "Wort Gottes" - und meint das eigene, das "Wort der Theologen".
Wir leben in einem freien Land. Hier darf jeder denken und glauben, was er für richtig hält! Aber genau deshalb sollte jeder auch klar und eindeutig sagen, was er denkt und glaubt. Er sollte so formulieren, daß jedermann versteht, was gemeint ist. In unsere Kirche tut man das nicht. Hier haben sich Denken und Sprache voneinander gelöst; sie stimmen nicht mehr überein. Jemand ist hereingefahren und hat unsere Sprache verwirrt, "daß keiner des anderen Sprache verstehe". Man redet in der Kirche an einander vorbei und man redet am "modernen Menschen" vorbei. Die Kirche 'versteht die Welt nicht mehr' und die Welt versteht die Kirche nicht mehr.
"Wenn Pfeife oder Harfe nicht unterschiedliche Töne von sich geben, wie kann man erkennen, was da gepfiffen und geharfet wird? Und wenn die Posaune einen undeutlichen Ton gibt, wer wird sich zum Streit rüsten. So auch ihr, wenn ihr nicht mit deutlichen Worten redet, wie kann man wissen, was geredet ist? Ihr werdet in den Wind reden." (1 Ko 14,7ff) "Interpretation" tötet die Worte, verwirrt die Sprache, verdunkelt die Wahrheit und zerstört den Glauben. Ich empfinde "Interpretation" als Lüge, als "Durcheinanderwerfen".
Ich glaube nicht an "Interpretation". Ich glaube an das Wort. Ich glaube, daß Worte die Herren über den Menschen und seine Sprache sein sollten. Weil in der Sprache Wahrheit ist; Wahrheit, die den Menschen frei macht; ihm Leben und Glauben ermöglicht. Deshalb bin ich böse; gefährlich wie ein Terrorist; eine Bedrohung für die Menschheit - eben ein Fundamentalist.
Ich bekenne mich schuldig.
Andreas Rau
EKD-Aktuell |