I. Allgemeine Eindrücke
I. 1. Kleinigkeiten am Rande
I. 2. Museumsstück
I. 3. Sumpf
I. 4. Seifenblasen
I. 5. Der feine Unterschied
I. 6. Leergut
II. Konkrete Fragen
II. 1. Mythos
II. 2. Rechenkunst
II. 3. Konsequente Inkonsequenz I
II. 4. Das 'Urwort des Seins'
II. 5. Konsequente Inkonsequenz II
II. 6. Heiligung
II. 7. Wahrheit
Nachwort
Zusammenstellung der Fragen
Literaturverzeichnis
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I. 5. Der feine Unterschied
Auf der Suche nach Munition blättert L auch in anderen Büchern. Zum Beispiel Helmut Thielicke "Auf der Suche nach dem verlorenen Wort" (Hoffmann & Campe, Hamburg 1986). Präzise, erstklassige Diagnose zum Thema Predigt und Theologie!
"Routine-Vokabular, christliches Funktionärs-Chinesisch, Gewohnheits-Phrasen, überzüchtete Begriffs-Virtuosität, Superlativ von steril, theologische Labor-Interna, Kreislauf des Selbstverständlichen, Langeweile im höheren Chor . . . "
Die empfohlene Therapie: der höhere Chor soll andere Labor-Interna singen . . . Die Diagnose sei jedermann empfohlen ! ! ! Die Therapie kann man - wie so oft - getrost vergessen.
Das aber nur am Rande. Denn
Thielicke hat auch Bedeutsames zur Rechtfertigungslehre zu sagen; S.
124:"Die Reformation trat an im Namen einer dreifachen Unbedingtheit: Allein
aus Glauben, allein aus Gnaden, allein aufgrund der Heiligen
Schrift werde der Mensch gerechtfertigt."
Da staunt der Laie! Ein
bekannter Theologe schreibt ein Buch und Christus ist nicht an seinem Platz.
Einfach vergessen?
Professor Jüngel beschwört eine
viermalige Unbedingtheit. Er nennt sie vornehm; S. 126: "die reformatorischen Exklusivpartikel
Christus allein - allein aus Gnade - allein durch das Wort - allein durch
Glauben: solus Christus - sola gratia - solo verbo - sola fide".
Hier staunt der Laie wieder!
Thielicke will unbedingt "scriptura"; Jüngel besteht exklusiv auf "verbo". Wie und wann und durch wen
wurde die Schrift zur Sprache? Wieso macht Jüngel das konkrete, schriftliche
Wort der Bibel zum allgemeinen, beliebigen Wort menschlicher Sprache (zum
'Worte machen')?
Weil L keine Antwort weiß,
befragt er vier überdurchschnittlich qualifizierte Pfarrer aus der
Nachbarschaft. (Darunter ein Dr. theol.) Doch die zucken ebenfalls mit den
Schultern: Keine Ahnung . . . ich könnte mir aber denken . . . wahrscheinlich .
. . bestimmt . . . ? ? ?
Der Dr. theol.
drückt dem L zwei Bücher in die Hand. Da kann er schnell mal nachlesen. Eines
davon, Otto Weber "Grundlagen der Dogmatik II", hat 816 Seiten. Sicher
äußerst aufschlußreich! Am Schluß findet sich ein lateinisches Register. Danach
steht - einschließlich des 1. Bandes - "sola fide" auf 8 Seiten,
"sola gratia" auf 4, "solus Christus" auf 6 und "sola
scriptura" auf 3 Seiten.
"Solo verbo" findet man auf 0 (null)
Seiten. Zumindest steht nichts im Register. "Die Grundlagen der
Dogmatik" kennen Jüngels "allein durch Worte" nicht ? ? ?
(In Klammer: L hatte - wie
bereits erwähnt - das Glück, einen Vortrag des Professors zu hören: abgelesen,
trocken . . . Anschließend Gelegen- heit zur Diskussion: Der Professor ist
nicht wiederzuerkennen! Souverän, erfrischend, brillant. Ein völlig anderer
Mensch! Bei aller Kritik: Die fachliche Qualifikation Jüngels ist über jede
Mäkelei erhaben.
Die "Gemeinsame
Erklärung zur Rechtfertigungslehre" (GE) ist eine Geschichte zwischen
Katholiken und lutherischen Kirchen. Die deutschen unierten Landeskirchen haben
dieses Treiben wohl nur - mißtrauisch? - beobachtet. Der theologische Ausschuß
der Arnoldshainer Konferenz hat dennoch eine Stellungnahme dazu abgegeben. Und
die erinnert sehr an den anderen, den brillanten Jüngel. Sie scheint um Längen
besser und genauer als die ganze schöne GE. Zumindest ist der Stil erfrischend.
Den Inhalt vermag ein Laie nicht zu beurteilen.
In dieser Stellungnahme,
siehe da, da taucht es auf: ". . . Aussagen
der GE durchgehend auf die Berücksichtigung der particula exclusiva 'allein
durch Gottes Wort' (solo verbo) verzichtet wurde . . . "
Sollte "verbo" auf
reformierten Mist gewachsen sein? Während scriptura besser auf lutherischem
gedeiht? Klammer zu.)
Wie dem auch sei, der
Professor erläutert nicht, woher dieser sein feiner Unterschied rührt. Er
stellt auch ihn einfach in den Raum.
S. 174: ". .
. daß der
Mensch allein durch das Wort gerechtfertigt werde."
S. 169: ". .
. daß die
den Sünder rechtfertigende Gnade ihrerseits sich im Wort, und zwar allein im
Wort, als Gnade erweist. Der gnädige
. . . Gott
handelt im Rechtfertigungsgeschehen allein durch das Wort, solo verbo."
L liegt hier möglicherweise
schief? Vielleicht interpretiert er Dinge in die Aussagen des Professors
hinein, die an dieser Stelle nicht passen. Aber so sehr weit daneben liegt er
dennoch nicht. Durch Theologie und Kirche schallt unüberhörbar genau dieses
Problem: Wenn man "verbo" an
die Stelle von "scriptura" setzt, wird die Ware vom Transportmittel
ersetzt, der Inhalt von der Verpackung, das Wasser von der Flasche.
Wenn Luther von "das
Wort" sprach, dann meinte er die 'Heilige Schrift'. Wenn Theologen heute
von "das Wort" sprechen, meinen sie meist ein 'Wortgeschehen'; meinen
sie das 'Ereignis Sprache', Verkündigung, Predigt. Einst war "das
Wort" die Bibel. Heute sei es das Reden über die Bibel.
Im Bilde gesprochen: Man
stelle sich bitte vor eine evangelische Kirche; darin der Altar und darauf die
dicke, schwere Bibel. Bei Luther war "das Wort" in diesem Buch.
Klare, eindeutige, verständliche deutsche Worte mit deutlich lesbaren
Buchstaben geschrieben. Inzwischen ist es aus diesem Buch herausgedampft -
hinein in den Menschen vor dem Altar. Das, was aus dessen Mund herauskommt,
nennt man heute "das Wort".
Einst galt
"scriptura", die 'Heilige Schrift', als das durch Apostel und
Propheten verkündete göttliche Wort. Sie hatte uneingeschränkte Autorität,
unbedingte Gültigkeit. Heute gilt "verbo",
die Worte der Menschen, als Autorität. (Genauer: gelehrte Professoren
diskutieren, disputieren, entmythologisieren und interpretieren. Sie
bilden die Pfarrer aus - und entscheiden so, was Gott sagen darf und was
nicht.)
Die Bibel sei "eine von
Menschen geschriebene religiöse Urkunde und daher zu lesen, zu verstehen und
nach denselben Methoden auszulegen wie andere menschliche Urkunden auch."
Sie "unterliegt nicht anderen Bedingungen des Verstehens als jede andere
Literatur" (Zahrnt S. 229 bzw. 243). Jüngel formuliert etwas anders, sagt
aber haargenau dasselbe; S. 116: (sinngemäß) die Bibel sei "menschliches Wort", das mit dem
Gottes Wort keineswegs unmittelbar zu identifizieren sei . . .
Dies ist - weithin -
Grundüberzeugung heutiger Fachtheologie. Aus einer Theologie des (biblischen)
Wortes wurde eine Theologie der (Theologen-) Wörter. Und diese Entwicklung wird
festgeschrieben u. a. durch Jüngels 'Exklusivpartikel-Trick'!
"Scriptura"
bestimmt den Inhalt; "verbo"
die Form. Wenn Jüngel die Heilige Schrift durch 'Theologen-Sprache' verdrängt,
dann ersetzt er die inhaltliche Bestimmtheit der Bibel durch die Beliebigkeit
der Auslegung. Es bleibt nichts, was die Inhalte des Glaubens festschreibt;
kein Maßstab, an Hand dessen "verbo"
geprüft und kontrolliert werden könnte.
'Gnade' ist ein klarer, aber
offener Begriff. Er sagt nicht, wer wen warum begnadigt.
'Glaube' ebenso. Wem oder was
und warum sollten wir glauben?
'Christus'? Nichts Genaues
weiß man nicht. Siehe Linde-, Bult-, Conzel-, Käse-, Lüde- und sonstige Männer.
Diesem 'Christus' kann jeder andichten, was er gerade braucht. "Es möge
gewesen sein, wie es wolle."
'Verbo' ist der Inbegriff der
Beliebigkeit. Mit Worten läßt sich buchstäblich alles behaupten.
(Es wird verwiesen, Jesus sei
das 'Wort, das ins Fleisch gekommen ist' und "verbo"
ziele in diese Richtung. Der Professor greift dies auch auf und rührt es unter
seine Ausführungen. Aber das ist nicht der Sinn seiner Aussage. Er meint
ausdrücklich gesprochene Worte, Sprache, Verben.)
Durch seinen kleinen
Kunstgriff haut Jüngel der Theologie buchstäblich den Boden unter den Füßen
weg. Sie hängt völlig in der Luft. Ohne "scriptura" kann jeder reden,
was er will. Kirche wird letztlich der Gnade und den Launen der Theologen
ausgeliefert. Und läuft Gefahr, der Banalität und Lächerlichkeit preisgegeben
zu werden: "Ich glaube, morgen wird schönes Wetter . . . "
'Allein aus Gnade' - ich muß
nichts dafür leisten.
'Allein durch Glauben' - ich
brauche nur hinausgehen und genießen.
'Petrus allein' - Wetter wird
(wie auch immer) von anderen gemacht.
'Allein durch das Wort' -
Frau Müller hat's gesagt. Ihr Rheuma meldet Wetterumschwung.
Wo ist da der Unterschied?
Den Vogel schießt der
Theologe Paul Tillich ab. Zahrnt "Die Sache mit Gott"; S. 382:
"Den Glauben, der ohne Berufung auf eine besondere göttliche Offenbarung
den Zweifel und die Sinnlosigkeit in sich hineinnimmt, bezeichnet Tillich als 'absoluten
Glauben'. Der Ausdruck soll besagen, daß dieser Glaube keinen konkreten
Inhalt mehr hat: 'Er ist einfach Glaube - ungerichtet, absolut.' Er ist die
bloße Erfahrung des Bejahtseins: Wer oder was bejaht, läßt sich nicht
definieren, weil alle Definitionen durch den Zweifel und die Sinnlosigkeit
aufgelöst sind."
"Dein Wort ist meines
Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege" (Ps 119,105). Dieses Licht
wegwerfen, um blind und "ungerichtet" durch die Dunkelheit zu irren,
soll die Krönung des Glaubens sein? Auf einen Laien wirkt das eher wie
schlichter Schwachsinn!
Dennoch, ist nicht genau dies
die Tendenz aller Theologie, die "scriptura" durch "verbo" ersetzt? Hauptsache irgendwie
an irgendwelche Gnade, die "Erfahrung des Bejahtseins", glauben -
alles andere ist letztlich belanglos? Es möge sein, wie es wolle?
Noch einmal Paul Tillich, den
Zahrnt neben Barth und Bultmann zu den "drei Großen des 20.
Jahrhunderts" zählt [Zahrnt, S 378]: "Dieses Ja klingt durch alle
'Religiösen Reden' Tillichs wie eine Glocke, die über den Fragen, Zweifeln und
Verzweiflungen des Menschen schwingt. Bedingungsloser, radikaler und
universaler, als Tillich es tut, kann man die Gnade nicht verkündigen. Vom
Menschen wird hier nichts verlangt: keine sittliche Anstrengung, keine
intellektuelle Leistung, nicht einmal die Anerkennung eines konkreten
religiösen Inhalts, nicht einmal die Kenntnis der Voraussetzung der göttlichen
Gnade, nicht einmal die Nennung des Namens Gottes. Der Mensch muß nur Bejahen,
daß er bejaht ist: 'Er muß die Bejahung bejahen.'"
Wie heißt es doch so schön in
Johannes 3,16: "Denn also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen
eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die die Bejahung bejahen, nicht verloren
werden, sondern das ewige Leben haben"?
(Auch Jüngel läutet diese
Glocke; s. II. 4. "Das Urwort des Seins)
2Ti 4,3: "Denn es wird
eine Zeit kommen, da sie die heilsame Lehre nicht ertragen werden; sondern nach
ihren eigenen Gelüsten werden sie sich selbst Lehrer aufladen, nach denen ihnen
die Ohren jucken, und werden die Ohren von der Wahrheit abwenden und sich den
Fabeln zukehren."
Das Rheuma von Frau Müller
mag mitunter durchaus zuverlässige Wetterprognosen ermöglichen. Aber kann "verbo" auf der Basis von
'Ohren-Jucken moderner Menschen (bzw. moderner Theologen)' Fundament von
Glauben und Kirche sein?
Es gab schon einmal
"Deutsche Christen". Wer garantiert, daß sich das nicht wiederholt?
Wer garantiert, daß heutige Theologie nicht auch von rotem, grünen oder
schwarzen "verbo" gefüllt und
mißbraucht wird?
Jh 7,37f "Wer da
dürstet, der komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt,
von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen."
(Ob dies richtig übersetzt und
'interpretiert' ist, sei dahingestellt. Dennoch:) Durch "scriptura"
kann Theologie zu 'lebendigem Wasser' werden. Durch "verbo" wird sie zur leeren Flasche,
in die letztlich alles gefüllt werden kann. Eine Flasche, in der sich die
unterschiedlichsten Geister tummeln.
Und wer weiß, vielleicht -
Gott möge es verhüten - vielleicht entsteigt dieser Flasche irgendwann einmal
ein Geist, der uns alle das Gruseln lehren wird?
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