I. Allgemeine Eindrücke
I. 1. Kleinigkeiten am Rande
I. 2. Museumsstück
I. 3. Sumpf
I. 4. Seifenblasen
I. 5. Der feine Unterschied
I. 6. Leergut
II. Konkrete Fragen
II. 1. Mythos
II. 2. Rechenkunst
II. 3. Konsequente Inkonsequenz I
II. 4. Das 'Urwort des Seins'
II. 5. Konsequente Inkonsequenz II
II. 6. Heiligung
Laien- Kommentar
Theologen-Theorie
Kirchliche Praxis
II. 7. Wahrheit
Nachwort
Zusammenstellung der Fragen
Literaturverzeichnis
Rechtfertigung |
II. Konkrete Fragen |
II. 6. Heiligung |
Kirchliche Praxis |
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Kirchliche Praxis
Eine 'Gott lose' Fachtheologie bringt natürlich Früchte in Kirche und Gemeinden (und Gesellschaft). Die augenfälligsten sind:
Frucht A:
Wer häufig mit Pfarrern zu tun und Gelegenheit hat, etwas hinter ihre Kulissen zu schauen, gewinnt einen zwiespältigen Eindruck. Viele von ihnen suchen aufrichtig, dem "theologischen Gottesbild" zu dienen und die "völlig offene Gesprächslage" anzubeten - doch ihr eigener, persönlicher Gott ist ein anderer. Sie tun gewissenhaft ihre Arbeit, aber ihr Herz hängt an anderen Dingen. Ihre wahre Liebe gilt z. B. dem Kirchenbau, der Verwaltung, der (Kirchen-) Musik, Kunst und Literatur, diversen Hobbys, dem Internet, der Politik, . . . Einige verehren auch das "Amt", d. h. ihre hervorgehobene Position, die eigene Wichtigkeit.
Sie haben ehrlich versucht, den "geglaubten Christus" anzubeten! Doch bei dem blieb ihr Herz leer. Und nun irren diese Pfarrer umher und suchen Halt an anderer Stelle, bei irgendwelchen Hilfs- und Ersatzgöttern. Suchen bei denen etwas Trost und Hoffnung zu finden. Sonntags treten sie dann vor die Gemeinde und bezeugen pflichtgemäß die "beinahe verworrene evangelische Gesprächslage": Siehe, ich verkündige euch große Freude! Jesus war zwar nicht der Sohn Gottes; ihr aber dürft ihn als solchen bekennen ? ? ?
Wie sollen PfarrerInnen unter solchen Umständen überzeugende Predigten halten? Wie können sie begeistert und begeisternd einen "Gott" verkünden, den sie selbst nicht lieben; einen Gott, der nicht der ihre ist?
Wer kann es Pfarrern verübeln, wenn sie sich des verworrenen und verwirrenden "verbos" schämen - und lieber in "platte politische Meinungsreden oder feuilletonistische Plaudereien" flüchten? Wen wundert's, wenn geistliche Rede - laut H. Thielicke - dann vielfach abrutscht in "christliches Funktionärs-Chinesisch, Gewohnheits-Phrasen, Langeweile im höheren Chor . . ."
'Person' und Glaube der PfarrerInnen scheint das absolute Tabu- Thema in unseren Landeskirchen zu sein. Die Folge sind oft genug Ge- meinden, die von Hirten geleitet werden, die selber nicht wissen, 'wo es lang geht'. Manche Seelsorger erscheinen sogar noch "verlorener" und hilfloser als die ihnen anvertrauten Schäfchen. ("Blinde Blindenführer" nennt Jesus das; Mt 15,14) Das Ergebnis: Kirche wird repräsentiert von Beamten, die sich weniger durch gemeinsamen Einsatz für eine überzeugende Sache als vielmehr durch Kleidung, Titel und kirchliches 'Fach-Chinesisch' auszeichnen.
(In Klammer: Bezeichnend dafür ist auch die kirchliche Reaktion auf die Auszeichnung von Jüngels 'Rede des Jahres': "Der Berliner Superintendent . . . wies jedoch die damit verbundene Kritik an der Mehrheit der Pfarrerschaft als 'unsachlich' und 'maßlos über- zogen' zurück . . . sei die Predigt ganz überwiegend eine vorbereitete, durchkomponierte und gestaltete Rede sowie ein Vorgang bewußter Pflege von Sprache im öffentlichen Raum."
Ein Musterbeispiel für innerkirchliches Realitäts-Bewußtsein! Da kritisiert jemand das Fehlen von inhaltlicher Substanz und prompt wird erwidert: Alles Quatsch, die Form ist überwiegend ganz famos . . . Klammer zu.)
Frucht B:
Heutige Predigt soll einen frei erfundenen (kerygmatischen) "verbo"- Christus bezeugen. Da solch ein Sprach-Nebel kaum jemanden zu begeistern vermag, sucht sie - bewußt oder unbewußt - nach besseren Göttern. Und man scheint tatsächlich einen gefunden zu haben!
Beispiel B. 1.: In der lokalen Presse erscheinen wöchentlich "Worte aus der Kirche". Dort nannte ein kirchlicher Angestellter "sieben gute Gründe" um in die Kirche einzutreten. Diese sind kurz gefaßt:
1. Kirche bietet Gespräch und Rat;
2. Der Glaube an Gott wird verkündigt, Sehnsüchte und Vergewisserung finden hier Raum;
3. Kirchen sind Orte der Begegnung;
4. kirchliche Sonn- und Feiertage geben dem Jahr sein Gesicht; 5. kirchliche Mitarbeiter schaffen ein freundliches Klima in Krankenhäusern usw.;
6. kirchliche Musik, Kunst und Architektur sind prägender Ausdruck unserer Kultur;
7. Kirche ist ein Ort der Ruhe und Besinnung.
(Zu 2.: nicht Gott wird verkündigt, sondern der Glaube an Gott - d. h. ein "Raum für Sehnsüchte und Vergewisserung"!)
Beispiel B. 2.: "Die Kirche" berichtet am 05. 12. 2004 über "Flotte Sprüche gegen den Trend: 'Getauft. Konfirmiert. Ausgetreten?' fragen die Plakate und Postkarten, mit denen die Thüringer Landeskirche auf sich aufmerksam machen will. Angesprochen sollen sich vor allem jene fühlen, die irgendwann ihre Mitgliedschaft quittiert haben. 'Was hat es gebracht? Uns auch nichts', heißt es in einem der Texte. Ein anderes Motiv ermutigt: 'Nicht jede(r) Ex wartet auf sie. Wir schon.' . . .
Kirchliche Mitgliederwerbung . . . Kirche verliert jährlich etwa 10.000 Mitglieder . . . So sank die Mitgliederzahl im vorigen Jahr unter eine halbe Million. In den nächsten 20 Jahren wird eine Halbierung dieser Zahl erwartet. 'Wenn wir nicht die traurige Statistik fortschreiben wollen, müssen wir etwas tun', appelliert Bischof Kähler an die Verantwortlichen auf allen Ebenen."
Beispiel B. 3.: In der Kirchenprovinz Sachsen haben 'Kirchenobere' (Konsistorialpräsidentin, zwei Pröpste, zwei OKR, zwei Superintendenten usw.) ein Konzept erstellt, um den weiteren Weg dieser Kirche aktiv zu gestalten. Dieses Konzept "Gemeinde gestalten und stärken" wurde von der Synode der KPS begrüßt und empfohlen. "Die Kirchenleitung, das Konsistorium und die Arbeitsstelle für kirchliche Dienste wünschen allen, daß . . . [davon] Segen für unsere Gemeinden ausgeht und auch die, die müde zu werden drohen, neue Kraft finden an der besten Sache der Welt, der Weitergabe des Evangeliums, fröhlich zu arbeiten."
Auf Seite 11 findet sich das Kapitel "Wovon Gemeinde lebt - Orientierung auf das gottesdienstliche Leben". Der Inhalt dieses gottes- dienstlichen Lebens wird an drei Stellen unter den Oberbegriff "Zuwendung Gottes" gestellt. Dann wird man konkret und erläutert, was genau damit gemeint ist: "Gemeinde lebt zuerst nicht von dem, was sie tut, sondern von dem, was sie empfängt. Gottesdienstliche / liturgische Formen vermitteln in besonderer Weise, was Menschen sich selbst nicht 'machen' können: Unterbrechung des Alltags, Erfahrung von Freiheit, Vergewisserung der eigenen Identität in den Brüchen des Lebens, Gemeinschaft, Ermutigung für das Engagement in der Welt."
Einst hieß es; 2Ko 4,5: "Denn wir predigen nicht uns selbst, sondern Jesus Christus, daß er der Herr ist." Und heute? Wird heute geworben nur noch für "uns selbst"; d. h. für kirchliche Dienstleistungen wie Besinnung, Begegnung, Gemeinschaft, Diakonie, Kunst . . . ? Einst bat Paulus; 2Ko 5,20: "Lasset euch versöhnen mit Gott". Wird heute daraus: "Wir warten auf euch"? Einst hieß 'Mission'; 2Ko 5,14: "Die Liebe Christi drängt uns", (sinngemäß) den Mühseligen und Beladenen 'Gute Nachricht' zu bringen. Heißt 'Mission' heute: kirchliche Statistiken drängen uns zur Mitgliederwerbung?
Und oben drauf wird dann "die Zuwendung Gottes" geklebt - wie ein Etikett, das rein 'innerweltlichen' Aktivitäten höhere religiöse Weihen ver- leiht? Wo "Mensch" drin ist, wird einfach "Gott" draufgeschrieben? Und fertig ist die heilige evangelische Kirche?
Einst war Kirche (sinngemäß) "ein Schatz in irdenen Gefäßen (auf daß die überschwengliche Kraft von Gott sei und nicht von uns"; 2Ko 4,7). Wird dieser Schatz heute weggeworfen und an seiner Stelle das "irdene Gefäß" aufpoliert und als Kostbarkeit angepriesen ? ? ?
Hat sich evangelische Predigt gewandelt von Cranachs Gemälde hin zu einem ehernen Lutherdenkmal: die linke Hand gestützt auf eine "völlig offene Gesprächslage" und die rechte zeigt auf die eigene Brust, auf sich selbst: "Kommet her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ICH will euch erquicken. Denn ICH bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" ? ? ?
Auch das mag recht heftig formuliert sein. Dennoch, L erlebt eine Kirche, die redet und tut viel Gutes, viel Richtiges, viel Nützliches (zumindest versucht sie das) - aber sie bietet nichts (wirklich) "Heiliges". Sie hat kein Herz; keinen (zentralen) Altar; kein (überzeugendes) Ziel, auf das hin alle ihre Aktivitäten ausgerichtet sind. Sie weiß im Tiefsten nicht, was Anbetung ist. L findet dort nichts, das es wert wäre, dafür "alles zu verkaufen, was er hat".
Luther schreibt im kleinen Katechismus (im "zweiten Artikel" zum Glaubensbekenntnis): "Ich glaube, daß Jesus Christus . . . sei mein Herr, der mich . . . erlöset hat , erworben, gewonnen von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels; nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen, teuren Blut und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben; damit ich sein eigen sei . . . und i h m diene . . . "
Eine "Gott lose" Theologie droht eine "Gott lose" Kirche zu schaffen. Eine Kirche, die das I H M durch ein M I R (der evangelischen Kirche) ersetzt. Die zum Selbstzweck wird, sich (weithin) nur noch um sich selber dreht. Eine Kirche, die letztlich sich selbst anbetet.
Frucht C:
Luther soll sinngemäß gesagt haben: "Wenn du einen Stein erwärmen willst, dann lege ihn in die Sonne." Wer selbst geliebt wird, liebt wieder. Wer sich von einem lebendigen Gott geliebt weiß, dessen Leben wird 'warm'. Und er wird diese Wärme ausstrahlen, indem er Gott und den Nächsten liebt. Genau hier dürfte der größte Mangel einer orientierungs- losen Predigt liegen: sie strahlt keine Wärme aus.
Wenn Kirche h i n-weist auf einen lebendigen Gott, einen 'Heiland', auf ein 'ewiges Du', dann predigt sie Evangelium; Ps 73,26: "Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachten, so bist doch du, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil."
"Du, Gott, bist allezeit meines Herzens Trost", mein Fels, meine Burg, meine Hilfe, mein Schutz, meine Zuversicht, meine Stärke, meine Freude, meine Wonne . . . meine Seele hängt an dir; deine rechte Hand hält mich; du erhörst mein Gebet, du nimmst mich am Ende in Ehren an . . .
"Mein Herr und mein Gott"! Dort ist die 'Gute Nachricht', ist das Licht, ist die Wärme, die ein Menschenleben von Grund auf verändern und eben erwärmen kann. Wenn Predigt nicht mehr auf solch ein eindeutiges Ziel h i n -weist, dann wird sie schnell zum V e r -weis, zum erhobenen Zeigefinger. Dann wird das "Du, Gott," zum "Du sollst": Du, Mensch, tue dieses; laß jenes, beachte folgendes, glaube richtig, bete besser . . .
Genau dies ist weithin - in allen theologischen Lagern ! ! ! - zu beobachten: Predigt handelt nicht von Gott, sondern vom Menschen. Sie ist nicht Evangelium sondern "Gesetz"; nicht Gabe sondern Belehrung und Forderung. Sie gibt nicht Gottes Wärme weiter, sondern appelliert: erwärmt euch selbst!
So wird die Liebe des 'ewigen Du' - unseres Vaters im Himmel - ersetzt durch die Nestwärme einer menschlichen Organisation. Solche Nest- wärme einer Kirchgemeinde kann mitunter sehr gut und hilfreich sein! Aber sollte sie wirklich die Wärme der Sonne aufwiegen können . . .
Dazu spaßeshalber nur ein Beispiel: Derzeit, Oktober 2004, startet die EKD eine bundesweite Aktion zu Thema Advent. Und was ist deren Thema? Vielleicht "Das größte Ereignis der Weltgeschichte: Gott wird Mensch! Darum fürchtet euch nicht: Christ der Retter ist da!" ? ? ? Weit gefehlt! Zitat aus "Die Kirche" vom 17. 10. 04: "Angesichts des immer früher beginnenden Verkaufs von Spekulatius, Lebkuchen und anderen Weihnachtsartikeln soll mit der Initiative 'Alles hat seine Zeit - Advent ist im Dezember' der Rhythmus des Kirchenjahres deutlicher gemacht werden, erklärt die EKD . . . Sie werden feststellen: Zimtsterne schmecken viel besser im Advent."
So richtig dies alles ist - aber ist das "Evangelium"? Ist das d i e "Gute Nachricht", auf die die Welt wartet? Rö 14,17: "Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im heiligen Geist."
(Paulus wird hier vielleicht etwas verbogen, dennoch:) "Gerechtigkeit und Friede und Freude im heiligen Geist" hat man in der EKD wohl nicht mehr im Angebot? Also muß man sich auf Essen und Trinken konzen- trieren: im Frühjahr "sieben Wochen ohne" und im Herbst halt "Advent ist im Dezember"? So sinnvoll diese Aktionen sind (! ! !), hat man wirklich nichts Besseres zu predigen als den korrekten Umgang mit Spekulatius und Zimtsternen? Oder - falls das zu überzogen formuliert ist - beinhaltet die "gute Nachricht" wirklich nur einen bestimmten Lebensstil? Was nützt der "Rhythmus des Kirchenjahres", wenn dessen Hoch-Zeiten leere Zeiten sind. Wenn "sieben Wochen ohne" hinführen zu einer 'Legende vom leeren Grab' - und nicht auch zu eindeutigen, das Leben "effektiv verändernden" Glaubensinhalten? Was nützt der schönste Advent, wenn letztlich nur eines ankommt: holdes "verbo" im lockigen Haar? Kurz: was erwärmt ein Leben - die Form oder der Inhalt; das Kirchenjahr oder der, auf den dieses Kirchenjahr hinweist?
Jüngel beklagt die "kalten und matten Reden" in den Kirchen. Er muß sich fragen lassen, inwieweit er und seine Fachkollegen die fehlende Wärme zu verantworten haben. Eben weil sie Glauben und Kirche aus der Sonne des "anderen, ewigen Ich" in den Schatten intellektuell anstrengender, 'Gott loser' Lehren geschoben haben?
Frucht D:
Zahrnt beschreibt in "Die Sache mit Gott" (S. 385) P. Tillichs "protestan- tisches Prinzip"; d. h. das Ziel, auf das hin alle evangelische Theologie nach dessen Meinung grundsätzlich ausgerichtet sein sollte: "Es ist der 'prophetische Protest' gegen jeden Versuch, irgend etwas Bedingtes für unbedingt zu erklären; irgendein Endliches ins Unendliche zu erheben, sei es eine Staatsform, eine Welt- anschauung, ein Gesellschaftssystem, eine Klasse, aber auch eine Hierarchie, eine Kirche, eine Konfession, ein Dogma oder selbst die Bibel. Das protestantische Prinzip greift alle geheiligten Autoritäten, Mächte, Überlieferungen, Lehren und Institutionen an und unterwirft sie der Kritik. Es kämpft gegen jede Vergegenständlichung Gottes; es duldet keine heiligen Orte, Personen, Handlungen und Stunden: niemand kann das Göttliche an Raum und Zeit binden.
In ihrem leidenschaftlichen Protest gegen jede Fixierung Gottes erreicht Tillichs Theologie fast prophetisches Pathos. Es gipfelt in dem Satz, daß es keine unbedingte Glaubenswahrheit gibt - außer der einen, daß kein Mensch sie besitzt."
"Das protestantische Prinzip greift alle geheiligten Autoritäten an" . . . "selbst die Bibel". Auf deutsch wohl: der protestantische Theologe kritisiert alles und jeden; gleichzeitig aber erhebt er in heiligem Zorn prophetischen Protest gegen jede Wahrheit, die ihn selbst - die Person des Theologen - in Frage stellt?
Mit anderen Worten: Das "christliche Prinzip" besagt, "das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit." Gott offenbart sich dem Menschen. Er stellt sich vor; wird selber Mensch, handelt und redet in der Geschichte. "Das Göttliche" kam herein in unsere Welt. "Ich bin . . . die Wahrheit" (Jh 14,6)! Tillichs "protestantische Prinzip" verlangt offenbar, diese "Wahrheit" wieder zu vertreiben. Will Gott in Raum und Zeit zum Schweigen bringen . . .
Heute, ca. 50 Jahre später, wird der rausgeschmissene EU-Kommissions-Kandidat Buttiglione zitiert (ideaSpektrum 51/04): ". . . das Dogma 'Es gibt nur eine Wahrheit - die, daß es keine Wahrheit gibt' werde heute auf dem Kontinent 'inquisitorisch' durchgesetzt."
Ist die Saat der evangelischen Theologie inzwischen aufgegangen? Wird Tillichs "Protestantisches Prinzip" jetzt Fleisch in Europa? Und mit ihm der Versuch, Gott zum Schweigen zu bringen? Vor einigen Jahren mußte - nach massivsten Korruptionsvorwürfen - eine ganze EU Kommission zurücktreten. Deren eigene 'Selbstreinigungskraft' ging damals offenbar gegen Null. Mit Buttiglione waren einige Kandidaten aufgestellt, an deren fachlicher und ethischer Kompetenz erhebliche Zweifel bestanden. Sie wurden später (fast?) alle doch gewählt. Nur für einen aufrechten Katholiken gibt es keinen Platz in diesen Kreisen? "Eine neue Kommission mit Rocco Buttiglione wird es nicht geben", äußerte der Chef der SPE-Fraktion im EU-Parlament. Wer seine Überzeugungen nach einer (christlich) "göttlichen Wahrheit" ausrichtet, wird grundsätzlich abgelehnt?
Über dem westlichen Europa ist immer häufiger ein leichtes Donner- grollen zu vernehmen. Das läßt ein nahendes Unwetter befürchten. Ein Unwetter, das an die französische Revolution erinnert: das einen Terror der Toleranz mit sich bringt und Blitz und Donner wirft auf alle, die unerwünschte Meinungen vertreten. Im Zentrum dieses Unwetters scheint eine Religion zu stehen, die den Menschen und seine Wahrheiten absolut setzt. Die Gerechtigkeit schaffen will, 'allein durch den Menschen' und das Gute, das in ihm steckt. Deren Gläubige es als "mörderischen Alptraum" empfinden, der Gnade eines Gottes zu bedürfen. Die es als "Quintessenz . . . des Negativen" betrachten, dem Urteil eines kon- sequenten "Über-Ich" unterworfen zu sein. Eine Religion, die alles, was den absoluten Menschen in Frage stellt, als Gotteslästerung empfindet und entsprechend verfolgt.
Wie so oft bei solchen Entwicklungen gibt es auch in den Kirchen Kräfte, die das Geschehen eifrig vorantreiben. In "Die Kirche" vom 28. 12. 2003 findet sich der Beitrag eines Paul Oestreicher, seines Zeichens (anglikanischer?) Geistlicher und viele Jahre Leiter des Internationalen Versöhnungszentrums in Coventry: "Der Gläubige, der meint, er habe die einzig gültige Wahrheit, ist lebensgefährlich. Er geht im Namen des jeweilig einzigen Gottes wörtlich über Leichen, je mehr desto besser. Die Anbetung weltlicher Götter hat gleiche Effekte. Stalin, Hitler, Mao haben es bewiesen und im Namen der einen Wahrheit Millionen umgebracht . . .
Es stimmt, dass meistens auch anderes, Politisches, Völkisches, Ökonomisches mit im Spiel ist. Aber in der 'Verteidigung' der vermeintlichen Wahrheit liegt die tödlichste Gefahr."
(In Klammer: Es dürfte zum Wesen jeder Religion gehören, die eigene Wahrheit für die einzig gültige zu halten. Und den eigenen Gott für 'den Größten' und wichtigsten. Andernfalls würde man nicht wirklich glauben und von Herzen anbeten. Auch wer meint, alle Wahrheiten seien gleich gültig, hält letztlich diese Überzeugung für die einzig wahre. Seine Wahrheit ist halt die Gleich-Gültigkeit bzw. die Ablehnung jeder [anderen] Wahrheit - dies allerdings kann tatsächlich zu einer gefährlichen 'Wahrheit' werden! Klammer zu.)
Einem solchen Absolutheits-Anspruch der "Toleranz" bzw. einer derart 'aggressiven Gleich-Gültigkeit' steht der christliche Glaube natürlich völlig verquer im Wege. Es mag gewisse Ähnlichkeiten geben (z. B. in ethischen Fragen), im Kern jedoch sind sie wie Feuer und Wasser; S. 128: "Daß die Rechtfertigung des Menschen allein in Jesus Christus geschehen ist, ist das A und O des christlichen Glaubens . . .
Joh 14,6 ist . . . maßgebend: 'Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.' Allein in Christus ist die Wahrheit des Lebens.
Das neue Testament pflegt auch sonst, wenn es von Jesus Christus redet, dessen exklusive Einzigartigkeit entweder ausdrücklich herauszustellen oder einfach vorauszusetzen. So heißt es in Act 4,12 daß 'in keinem anderen das Heil ist; es gibt auch keinen anderen Namen unter dem Himmel, der den Menschen gegeben ist, als der, in dem wir zu retten sind'.
. . . wer Jesus als den Herrn bekennt, spricht allen anderen Herren die Würde des Kyrios kompromißlos ab. Der römische Kaiser hat dergleichen immerhin mit der Todesstrafe bedroht."
Sollte auch Jüngel in die Reihe derer gehören, von denen - laut Oestreicher - "tödlichste Gefahr" ausgeht; die "wörtlich über Leichen" gehen, "je mehr desto besser" ? ? ? Der Professor scheint sich einem solchen Verdacht nicht aussetzen zu wollen. Jedenfalls legt er den - beim Thema Rechtfertigung - unverzichtbaren theologischen Argumenten eine Erklärung bei, die Kritiker beruhigen dürfte; S. 129 (in der Fußnote): "Die damit sogleich sich einstellende Frage nach dem Verhältnis des christlichen Glaubens zu den anderen Religionen bedarf einer eigenen Erörterung, deren dringlichste Aufgabe es wäre, das kompromißlose solus Christus davor zu bewahren, zur Legitimierung religiöser Intoleranz mißbraucht zu werden. Ist Christus unser Frieden (Eph 2,14), dann müßte . . . 'Christus allein' geradezu als Grundlegung religiöser Toleranz in Betracht kommen. Ist es doch seine Leidensgeschichte, in der er sich als Heiland aller Menschen erweist."
Abgesehen von der Frage, ob Christus sich als "Heiland aller Menschen erweist" (oder allein derer, die durch den Glauben in seine Leidensgeschichte "inkorporiert" sind) - wer wollte dem widersprechen? Doch Jüngels Formulierungs-Kunst läßt auch hier wieder ganz elegant offen, ob 'seine religiöse Toleranz' sich auf die Form des Umganges beschränkt - oder ein Rückzieher in der Sache ist? Bei seinem Referat vor der EKD-Missions-Synode war von einem "solus Christus" oder "Christus der Kyrios" jedenfalls kaum etwas zu hören . . .
Jüngel kennt die Regeln der "political correctness" und er beachtet sie. Aufrichtige Christen (Laien und Theologen), die das nicht tun, laufen dagegen Gefahr, zunehmend zu Außenseitern zu werden. Wer 'in aller Einfalt' zum "A und O des christlichen Glaubens" steht und bekennt, "daß 'in keinem anderen das Heil ist; es gibt auch keinen anderen Namen unter dem Himmel, der den Menschen gegeben ist, als der, in dem wir zu retten sind'", dürfte sich - über kurz oder lang - ernsthaften Ärger einhandeln.
Wer weiß, vielleicht findet sich auch mal wieder eine Regierung, die diejenigen mit der Todesstrafe bedroht, die "Jesus als den Herrn" bekennen und damit "allen anderen Herren die Würde des Kyrios kompromißlos" absprechen? (In anderen Kulturkreisen ist das mancherorts bereits heute - zumindest ansatzweise - der Fall.) Mit Sicherheit aber dürfte Mt 10, 32f wieder an Bedeutung gewinnen: "Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will auch ich bekennen vor meinem himmlischen Vater. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will auch ich verleugnen vor meinem himmlischen Vater."
Es ist immer wieder
verblüffend, wie treffend Jüngel bestimmte Sach- verhalte beschreibt! S. 45: "Götzen sind niemals um ihrer selbst willen
interessant. Gott ist um seiner selbst willen interessant. Wo er es nicht mehr
ist, da beginnt der Götzendienst, der nur ein Instrument rücksichtsloser
menschlicher Selbstverwirklichung ist."
Die Frage lautet, inwieweit
eine 'Gott lose' Theologie einer Religion "rücksichtsloser
menschlicher Selbstverwirklichung" den Boden bereitet. Oder sogar
unsere Kirche in ein solches "Instrument
rücksichtsloser menschlicher Selbstverwirklichung" zu verwandeln
droht?
Eben weil sie den
hochinteressanten "König aller Könige", den 'historischen Jesus',
durch einen öden 'geglaubten Christus' ersetzt. Und so "die Herrlichkeit
des unvergänglichen Gottes mit einem von Menschen gemachten Bild
vertauscht" (Rö 1,23). Oder - noch schlimmer - an die Stelle eines
'hoch-spannenden' lebendigen Gottes zwar (meist) richtige, aber dennoch zutiefst
langweilige Moralpredigten bzw. 'ethische Imperative' setzt.
(In Klammer als Zugabe: A.
Tolstoi wird zitiert: "Freiheit wird nicht mit dem Streben nach Freiheit
sondern mit dem Streben nach Wahrheit erlangt. Freiheit ist kein Ziel, sondern
eine Folge."
Falls dem so ist: welche
'Früchte' bringt es in Kirche und Gesellschaft, wenn Theologie nicht nach
Wahrheit strebt, sondern diese kritisiert? Wenn sie nach Tillichs
"protestantischem Prinzip" mit "fast prophetischem Pathos"
Sturm läuft gegen jede "unbedingte Glaubenswahrheit"? Und so den
Menschen zum Maß aller Dinge ernennt? Wenn sie dadurch Wahrheit gerade nicht
mehr sucht, sondern letztlich selbst erzeugen will? Die Namen Hohmann und
Buttiglione stehen wie Menetekel für den Niedergang von [Meinungs- und
Glaubens-] Freiheit im Haus Europa! Und die evangelischen Kirchen schweigen.
Wohl auch, weil dieser Niedergang auch in ihnen um sich greift? Klammer zu)
Noch ist von dem drohenden
Unwetter nur ein Donnergrollen zu hören. Doch es scheint näher zu kommen. Gebe
Gott, daß es glimpflich abgeht! Aber wer weiß, vielleicht - vielleicht ? ? ? -
ist dieses kommende Unwetter auch der letzte Vorbote des ganz, ganz großen
Wetterleuchtens, auf das Christen seit fast 2000 Jahren warten . . .
Wenn ein armer Mann eine
reiche Frau umwirbt, kann es sein, daß er es ehrlich meint; daß er die Frau
aufrichtig liebt. Es kann aber auch sein, daß er nur hinter ihrem Geld her ist.
Dann wiederum könnte es sein, daß die Frau dies merkt und sagt: nein. Schlicht
und einfach: nein! Dann wäre es vorbei mit dem erträumten Reichtum. Der Mann
könnte noch so viel reden und argumentieren und betteln und drohen . . . Wenn die Frau nein sagt, ist es aus!
In Mt 25,1ff findet sich eine
durchaus vergleichbare Geschichte. Zehn junge Frauen sind zu einer Hochzeit
eingeladen. Als es Verzögerungen gab, bekamen fünf von ihnen ein Problem: das
Öl ihrer Lampen war aufgebraucht. Also liefen sie los, um neues zu besorgen.
"Und da sie hingingen, zu kaufen, kam der Bräutigam; und die bereit waren,
gingen mit ihm hinein zur Hochzeit, und die Tür ward verschlossen. Zuletzt
kamen auch die andern Jungfrauen und sprachen: Herr, Herr, tu uns auf! Er
antwortete aber und sprach: Wahrlich ich sage euch: Ich kenne euch nicht."
Prof. Jüngel - direkt auf
diesen letzten Satz angesprochen - vertrat sinngemäß die Meinung: dieses
Gleichnis bewegt sich auf dem Niveau der "Geschichte vom schwarzen
Mann". Erwachsene erzählen Kindern Geschichten, um bestimmte pädagogische
Effekte zu erreichen. Der Inhalt der Geschichten ist sachlicher Unsinn; dennoch
erwartet man, damit eine positive Wirkung zu erzielen. Der Professor hat dies
selbstverständlich ungleich eleganter formuliert; aber er vertrat die
Überzeugung: es kann und wird niemals geschehen, daß Gott zu einem Menschen
sagt: "Ich kenne dich nicht."
Was macht ihn da so sicher?
Warum sollte die Bibel Gleichnisse erzählen, deren sachlicher Inhalt Unsinn
ist? Bewegt sich "Gottes Wort" tatsächlich auf dem Niveau von Schauermärchen,
die Unbedarfte viel- leicht erschrecken, den Gebildeten aber nur ein müdes
Lächeln kosten? Jüngel sagt doch selber; S. 113: ". .
. Begriff
der göttlichen Strafe . . . ist . . . unerläßlich
. . . Das
ist der Zorn Gottes . . . daß der Sünder an die
Konsequenzen seiner Sünde ausgeliefert wird."
Auch Paulus betont; Rö 9,27
nach Jes 10,22f: "Wenn die Zahl der Kinder Israel wäre wie der Sand am
Meer, so wird doch nur ein Rest gerettet werden". Wenn selbst von Israel
"nur ein Rest gerettet wird" - woher will evangelische Theologie dann
die Garantie einer 'vollständigen Errettung' nehmen? "Hat Gott die
natürlichen Zweige nicht verschont, wird er dich doch wohl auch nicht
verschonen" (Rö 11,21). Und: wenn der Zorn Gottes einzelne Sünder an die
Konsequenzen ihrer Sünde ausliefert, warum sollte er dies nicht auch mit einer
größeren Anzahl tun? Z. B. einer Kirche? Oder einer Nation? Oder gar einem
ganzen Erdteil?
Mit anderen Worten: "Da
nun der Bräutigam verzog, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein. Zur
Mitternacht aber ward ein Geschrei: Siehe der Bräutigam kommt; gehet aus, ihm
entgegen!"
Warum sollte der Bräutigam
"zur Mitternacht" (während der letzten großen Dunkelheit bzw.
'Unwetters'?) Leute einlassen, die sich im Grunde gar nicht für ihn
interessieren? Die nur auf eine schöne Feier aus sind; die allein nach 'gutem
Essen, Tanz und Unterhaltung' trachten? Leute, die ihr Leben 'heiligen' hin auf
Lehren, Ereignisse, Definitionen und sonst was; die sich für alles
interessieren, nur nicht für seine Person? Die von ihm "so gut wie nichts
wissen" wollen; die ihn als Hochstapler darstellen; ihn als Sache
betrachten, von der man (nach Belieben) Gebrauch machen kann . . . ? Leute, die
ihren Herrn entmündigt haben, um ihren Nutzen zu ziehen aus seinem Vermächtnis;
die "das Erbe" wollen, aber nicht ihn selbst, der sein Leben für sie
geopfert hat?
Was wäre, wenn dieser Herr
nein sagte? Schlicht und einfach: nein?
Diese Leute könnten dann
reden und argumentieren mit ihren Lehren von Gnade und Rechtfertigung; sie
könnten betteln und drohen, ihr Herr sei nur dann gerecht, wenn er auch sie
rechtfertige . . . Wenn der Kyrios nein sagt, ist
es aus. Dann bliebe nur noch "Heulen und Zähneklappen" (Mt 8,11f) . .
.
"Jaget nach der
Heiligung . . . " Eine Theologie, die sich
nicht auf "ihren Bräutigam" hin heiligt, muß sich fragen lassen, ob
sie nicht die furchtbarste aller dunklen Wolken über sich und unserer Kirche
herauf- beschwört: Ich kenne euch nicht!
F R A G E 6
Welchen Gott bietet
evangelische Theologie dem 'modernen Menschen', auf das er sein Herz an ihn
hänge, ihn anbete und ihm das gesamte Leben heilige?
Welches konkrete Gesicht
(oder Gestalt) hat dieser Gott?
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